(...) "Aber etwas vom Tempel musst du doch der Menge auf dem Basar gesagt haben?"
Pilatus hatte das Gefühl, als stäche ihm die antwortende Stimme unsagbar quälend in die Schläfe, als sie sagte:
"Ich, Hegemon, habe gesagt, der Tempel des alten Glaubens werde einstürzen, und ein neuer Tempel der Wahrheit werde emporwachsen. Ich habe mich so ausgedrückt, damit es verständlicher sei.
"Warum hast du auf dem Basar das Volk verwirrt, Landstreicher, indem du ihm von der Wahrheit sprachst, von der du gar keine Vorstellung hast? Was ist Wahrheit?"
Und dabei dachte der Prokurator: O ihr Götter! Ich stelle ihm Fragen, die nichts mit dem Fall zu tun haben ... Mein Verstand gehorcht mir nicht mehr ... Wieder gaukelte vor ihm die Schale mit dunkler Flüssigkeit. Gift möchte man nehmen, Gift ...
Erneut vernahm er die Stimme:
"Die Wahrheit ist vor allem, dass dich der Kopf schmerzt, und er schmerzt so heftig, dass du kleinmütig an den Tod denkst. Du hast nicht nur kaum noch die Kraft, mit mir zu sprechen, sondern es fällt dir sogar schwer, mich anzusehen. Ich bin jetzt, ohne es zu wollen, dein Peiniger, und das betrübt mich. Du kannst kaum noch einen Gedanken fassen und träumst nur davon, dass dein Hund kommt, offenbar das einzige Wesen, an dem du hängst. Aber deine Qualen werden gleich beendet sein, dein Kopfweh wird vergehen."
Der Sekretär stockte mitten im Wort und glotzte den Gefangenen mit weit aufgerissenen Augen an.
Pilatus hob den Märtyrerblick zum Gefangenen und sah, dass die Sonne schon ziemlich hoch über der Rennbahn stand, ein Strahl in den Säulengang drang und auf die ausgetretenen Sandalen Jeschuas zukroch, der der Sonne auswich.
Da erhob sich der Prokurator von seinem Sessel, presste den Kopf in die Hände, und sein glattrasiertes gelbliches Gesicht spiegelte Verstörtheit. Er bezwang sie jedoch mit Willenskraft und setzte sich wieder.
Der Arrestant fuhr indes zu sprechen fort, doch der Sekretär notierte nichts mehr, er reckte den Hals wie eine Gans und lauschte, damit ihm nur ja kein Wort entgehe.
"Siehst du, es ist schon vorbei", sprach der Gefangene und blickte Pilatus wohlmeinend an. "Das freut mich sehr. Ich würde dir raten, Hegemon, für kurze Zeit den Palast zu verlassen und in der Umgebung spazierenzugehen, wenigstens in den Gärten auf dem Ölberg. Das Gewitter" - der Gefangene wandte sich um und blinzelte in die Sonne - "kommt später, erst gegen Abend. Ein Spaziergang täte dir gut, und ich würde dich mit Vergnügen begleiten. Mir sind neue Gedanken gekommen, die dich, so glaube ich, interessieren könnten, und ich würde sie dir gerne mitteilen, zumal du den Eindruck eines sehr gescheiten Menschen machst."
Der Sekretär wurde totenbleich und ließ die Pergamentrolle fallen.
"Das Schlimme ist nur", fuhr der Gefesselte ungehindert fort, "dass du zu verschlossen bist und den Glauben an die Menschen verloren hast. Du musst doch zugeben, dass es nicht angeht, alle Zuneigungen einem Hund zu schenken. Dürftig ist dein Leben, Hegemon." Und hier erlaubte sich Jeschua ein Lächeln.
Der Sekretär dachte nur noch darüber nach, ob er seinen Ohren trauen sollte oder nicht. Aber er musste es wohl. Nun trachtete er, sich auszumalen, in welch sonderbarer Form die Wut des jähzornigen Prokurators angesichts dieser unerhörten Frechheit des Gefangenen ausbrechen würde. Und das vermochte er sich nicht vorzustellen, wiewohl er den Prokurator gut kannte.
Da ertönte abgerissen, heiser die Stimme des Prokurators, der auf lateinisch sagte:
"Man nehme ihm die Fesseln ab."
Einer der Legionäre seiner Eskorte stieß die Lanze auf den Boden, übergab sie einem anderen, trat herzu und löste dem Arrestanten die Schnur. Der Sekretär hob die Rolle auf und beschloss, einstweilen nichts mehr zu notieren und sich über nichts mehr zu wundern.
"Gestehe", fragte Pilatus leise auf griechisch, "du bist ein großer Arzt?"
"Nein, Prokurator, ich bin kein Arzt", antwortete der Gefangene und rieb sich mit Genuß die gequetschten und rotgeschwollenen Handgelenke.
Unter gesenkten Brauen hervor durchbohrte Pilatus den Gefangenen mit schroffem Blick, der nicht mehr trüb war, sondern schon wieder die wohlbekannten Funken sprühte.
"Ich habe dich noch nicht danach gefragt", sagte Pilatus, "aber kannst du vielleicht auch Latein?"
"Ja", antwortete der Arrestant.
Die gelblichen Wangen des Pilatus röteten sich ein wenig, und er fragte auf lateinisch:
"Woher weißt du, dass ich meinen Hund rufen wollte?"
"Das ist ganz einfach", erwiderte der Arrestant auf lateinisch. "Du führtest die Hand durch die Luft" - Jeschua wiederholte die Geste des Pilatus -, "als wolltest du ihn streicheln, und deine Lippen ..."
"Ja", sagte Pilatus.
Schweigen trat ein. Dann stellte Pilatus eine Frage in griechischer Sprache:
"Du bist also Arzt?"
"Nein, nein", antwortete der Gefangene lebhaft, "glaub mir, ich bin kein Arzt."

"Nun gut, wenn du das geheimhalten willst, so tue es. Es hat mit deinem Fall nichts zu tun. Du behauptest also, du hättest niemanden angestiftet, den Tempel zu zerbrechen, niederzubrennen oder auf noch andere Art zu zerstören?"
"Ich, Hegemon, habe niemanden zu solchem Tun aufgewiegelt, ich wiederhole es. Sehe ich wohl wie ein Schwachsinniger aus?"
"O nein, wie ein Schwachsinniger siehst du nicht aus", antwortete der Prokurator leise und ließ ein schreckliches Lächeln sehen. "So schwöre, dass es nicht stimmt."
"Wobei soll ich schwören?" fragte der Gefangene lebhaft.
"Meinetwegen bei deinem Leben", antwortete der Prokurator, "bei ihm zu schwören ist höchste Zeit, denn wisse, es hängt an einem Haar."
"Du vermeinst doch nicht, dass du es dort aufgehängt hättest, Hegemon?" fragte der Arrestant. "Falls doch, so irrst du sehr."
Pilatus zuckte zusammen und antwortete durch die Zähne:
"Ich kann jedenfalls dieses Haar zerschneiden."
"Auch darin irrst du", widersprach der Arrestant mit hellem Lächeln und beschirmte sich mit der Hand gegen die Sonne. "Du wirst zugeben, dass es doch wohl nur der zerschneiden kann, der es aufgehängt hat."
"Soso", sagte der Pilatus lächelnd, "jetzt bezweifle ich nicht mehr, dass die müßigen Gaffer dir in Jerschalaim nachgelaufen sind. Ich weiß nicht, wer deine Zunge aufgehängt hat, doch ist sie trefflich aufgehängt. Aber sage mir beiläufig, ist es richtig, dass du durch das Susator in Jerschalaim eingezogen bist, auf einem Esel reitend, begleitet vom Pöbel, der dich schreiend begrüßte gleichwie einen Propheten?" Der Prokurator wies auf die Pergamentrolle.
Der Arrestant blickte den Prokurator verständnislos an.
"Ich habe ja gar keinen Esel, Hegemon", sagte er. "Wohl bin ich durchs Susator in Jerschalaim eingezogen, jedoch zu Fuß, und in meiner Begleitung war nur Levi Matthäus, und niemand hat mich schreiend begrüßt, denn mich hat ja in Jerschalaim kein Mensch gekannt."
"Sind dir folgende Namen bekannt", fragte Pilatus weiter und ließ kein Auge von Jeschua, "Dismas, Gestas und War-Rawwan?"
"Diese guten Menschen kenne ich nicht", antwortete der Arrestant.
"Ist das wahr?"
"Es ist wahr."
"Sage mir doch, warum du immer wieder von guten Menschen sprichst. Nennst du jeden so?"
"Jeden", antwortete der Arrestant, "böse Menschen gibt es nicht auf der Welt."
"Das höre ich zum erstenmal", sagte Pilatus auflachend. (...)


Aus dem Roman "Der Meister und Margarita" von Michail Bulgakow
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