Nietzscheanismus als kryptofaschistische Strömung?


"Nietzsche und der Faschismus" beinhaltet in sich eine Fragestellung, die aus seiner in sich widersprüchlichen Philosophie nicht zu beantworten ist. So entdeckte der Historiker Ernst Nolte in Nietzsches Schrifttum Parallelen zu Marx und doch einen Hass auf den Sozialismus, partielle Verachtung der Juden, aber einen ausgeprägten Anti-Antisemitismus, das Imago der "blonden Bestie", aber eine böse Kritik der Deutschen, ein Schwanken zwischen einem aufklärerischen Nietzsche und einem Phantasten der großen Kriege, den unerbittlichen Kritiker christlicher Sklavenmoral, der selbst mit der Rolle des Religionsstifters kokettierte, und den Wahnsinnigen, der mehr war als nur geisteskrank - "Nietzsches Wahn war zugleiche eine Offenbarung." Mehr lässt sich da noch zur Wirkungsgeschichte des Nietzscheanismus im Hinblick auf faschistische Strömungen und die geistige Entwicklung geschichtsmächtiger Einzelpersonen faschistoiden Charakters sagen. Der Faschismus hat keinen bestimmten geistigen Vater, er kann nicht wie der weitausladende Wuchs des marxistischen Denkens auf einige große Wurzeln zurückgeführt werden. Er wurde vielmehr von vielen Denkern zumeist kleineren Zuschnitts vorbereitet, die sich vom Unbehagen an der immer deutlicheren Tendenz zu einer nivellierten Massengesellschaft bestimmen ließen, dagegen Elitetheorien und sozialdarwinistische Kategorien als Leitbilder aufrichteten und dem Kult der Gewalt und des großen Individuums huldigten. Als ein Vorbereiter des Faschismus ist Friedrich Nietzsche (1844-1900) wegen seiner These vom Vorrang des Lebens vor dem Intellekt, seiner Gegnerschaft gegen die Mitleidsethik, seiner Betonung des Diesseits und seinem Verlangen nach dem Übermenschen in diesem Zusammenhang anzuführen.

Eine besondere Bedeutung hatte Nietzsche für das politische Denken von Benito Mussolini, der als fundierter Kenner von Nietzsche gelten darf. In der ersten Hälfte seines politischen Lebens war Mussolini entschiedener Linkssozialist, erst später wandelte er sich zum Faschisten. Allerdings war auch sein Marxismus durch Einflüsse Bergsons und Nietzsches schon sehr individuell ausgeprägt, seine Argumentationsweise schon als Marxist nietzscheanisch. Im Partito Socialisto Italiano stieg er bis zum Führer des linken Flügels auf. Er dachte ausgesprochen internationalistisch und revolutionär. Als er im Oktober 1914 im Parteiblatt Avanti erklärte, der Geist des Sozialismus verlange den Kriegseintritt, wurde er vom Parteivorstand amtsenthoben und später aus der Partei ausgeschlossen. In der Folge entfremdete sich Mussolini von seinen linken Wurzeln und würdigte den Kapitalismus ob seiner Lebenskraft. Charakteristisch für Mussolini waren immer schon gewesen Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt und leidenschaftliche politische Betätigung. Charakterzüge, welche die intensive Lektüre Nietzsches auf ideologischer Ebene verstärkte.

Ganz gewiss ist Nietzsche nicht die besondere Biographie Mussolinis anzulasten, und Nietzsche hat sich immer entschieden genug von Nationalisten (den Schollenklebern, wie er sie verächtlich nannte) distanziert. Doch hat sein Denken bestimmte Haltungen und Charaktereigenschaften ideologisch bestärkt, die für die Konstituierung von Faschismus nicht unmaßgeblich waren. Wie bei Marx der Stalinismus (Diktatur des Proletariats), so ist bei Nietzsche der Faschismus im Keim vorhanden. Was man ihm nicht zum Vorwurf machen sollte, zumal ja auch bspw. das Christentum den Keim zum Antisemitismus beinhaltet (insb. das Johannesevangelium). Marxismus, Nietzscheanismus wie auch die christliche Frohbotschaft mögen im Hinblick auf den Missbrauch durch Gewaltideologien bedenklich sein, doch ist die jeweils logische Konsequenz nicht mit dem faktischen Eintreten der Konsequenz zu verwechseln. Alle drei können genauso gut zur Entfaltung begrüßenswerter menschlicher Eigenschaften Anleitung sein.

Fairerweise sei deswegen an dieser Stelle auch eine zur obigen Ausführung konkurrierende Sichtweise erwähnt. Nämlich die des prominenten Nietzsche-Experten Gilles Deleuze, welcher Nietzsche gegen alle Faschismusvorwürfe verteidigt und die Figur des Übermenschen als Aussteiger, Bohemien, Hippie zeichnet und ihr im Grunde nur weltanschaulich eher linkshaltige Charaktermerkmale zuordnet. Der vor allem in Frankreich populäre postmoderne Nietzsche tritt uns solcherart als domestizierte Bestie entgegen, deren zahnloser Biss nicht mehr zu fürchten ist.

Grundsätzlich scheint es fragwürdig, Nietzsche aus seiner Wirkungsgeschichte in eine bestimmte Richtung hin auslegen zu wollen, zumal seine Philosophie einfach keine eindeutige Auslegung zulassen will. Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann merkte dazu einmal an: Nietzsches radikale tagespolitische Reflexionen sind ebenso wenig durchzustreichen wie
seine aristokratischen Phantasmen. Nietzsche erweist sich einmal mehr als einer, der nicht einzuordnen ist, der unangenehm berührt, weil er unerbittlich ist.

(misanthropos; 08/2001)


Als weiterführende Literatur sind empfohlen:  

Ernst Nolte: "Nietzsche und der 'Nietzscheanismus' "
Herbig, 2000. 352 Seiten. ISBN 3-7766-2153-2.
ca. EUR 24,90.
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Konrad Paul Liessmann: "Philosophie des verbotenen Wissens.
Friedrich Nietzsche und die schwarzen Seiten des Denkens"
Zsolnay, 2000. 380 Seiten. ISBN 3-5520-4980-0.
ca. EUR 24,90.
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