Kallikles: „Das Recht des Stärkeren“

Von des Sophisten Kallikles Naturrechtsbegriff zu Nietzsches Theorie vom Übermenschen.


Nachfolgender Sprechtext des Sophisten Kallikles soll, nach Meinung namhafter Gelehrter, Friedrich Nietzsche als Vorlage zu seiner Theorie vom Übermenschen gedient haben. Es handelt sich hierbei um einen Dialog zwischen Kallikles und Sokrates, den Platon in seinem Gorgias wiedergibt und dessen Authentizität fraglich ist, da Kallikles als historische Person nicht verbürgt ist und nicht auszuschließen ist, dass – so meint der Philosoph Ralf Ludwig – es sich bei Kallikles  genauso gut um eine Erfindung Platons oder um eine Sprechmaske für andere historische Persönlichkeiten handelt. Zum Beispiel für Hippias, Kritias oder für Alkibiades. Wie auch immer es wirklich war, die überragende Bedeutung dieses klassisch naturrechtlichen Textes für die Philosophiegeschichte dürfte zweifellos gegeben sein. Somit sei der Leser jetzt auf das Textzitat verwiesen, in dem Kallikles zu Sokrates spricht:

„Allein ich denke, die die Gesetze geben, das sind die Schwächeren und der große Haufe. In Beziehung auf sich selbst also und das, was ihnen nutzt, bestimmen sie die Gesetze und das Löbliche, was gelobt, das Tadelhafte, was getadelt werden soll; und um kräftigere Menschen, welche mehr haben könnten, in Furcht zu halten, damit diese nicht mehr haben mögen als sie selbst, sagen sie, es sei hässlich und ungerecht, für sich immer auf mehr auszugehen, und das ist nun das Unrechttun, wenn man sucht, mehr zu haben als die anderen. Denn sie selbst, meine ich, sind ganz zufrieden, wenn sie nur gleiches erhalten, da sie die Schlechteren sind.
Daher wird nun gesetzlich dieses unrecht und hässlich genannt, das mehr zu haben Streben als die meisten, und sie nennen es Unrechttun. Die Natur selbst aber, denke ich, beweist dagegen, dass es gerecht ist, dass der Edlere mehr habe als der Schlechtere und der Tüchtigere als der Untüchtige. Sie zeigt aber vielfältig, dass sich dieses so verhält, sowohl an den übrigen Tieren als auch an den ganzen Staaten und Geschlechtern der Menschen, dass das Recht so bestimmt ist, dass der Bessere über den Schlechteren herrsche und mehr habe. Wenn aber, denke ich,  einer mit einer recht tüchtigen Natur zum Manne wird, so schüttelt er das alles ab, reißt sich los, durchbricht und zertritt alle unsere Schriften und Gaukeleien und Besprechungen und widernatürlichen Gesetze und steht auf, offenbar als unser Herr, er, der Knecht, und eben darin leuchtet recht deutlich hervor das Recht der Natur.“


(aus: „Die Vorsokratiker für Anfänger“ von Ralf Ludwig; S. 206)


Nietzsche schreibt nun zu dieser Thematik in „Der Wille zur Macht“: „Man hat die Starken immer zu beweisen gegen die Schwachen“ – und gegen Darwins Evolutionismus gerichtet: „Gesetzt aber, es gibt diesen Kampf – und in der Tat, er kommt vor -, so läuft es leider umgekehrt aus, als die Schule Darwins wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen dürfte: nämlich zuungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen“. –
Womit Nietzsche wohl zum Ausdruck bringen will, dass bei aller Lebenserfahrung das Geniale und Erhabene dem nivellierenden Instinkt des Biedersinns zuwiderläuft und solcherart bald schon zum Opfer niederträchtiger Grobheiten wird. Nicht das besonders Herausragende und folglich auch Nonkonforme setzt sich in der Entwicklungsgeschichte durch, sondern das an die jeweiligen Lebensverhältnisse, an die herrschenden Gesetzmäßigkeiten, besonders gut Angepasste; der Opportunist führt die Evolution zuvorderst an! Alles Edle ist somit unter normativen Verhältnissen dem Untergang geweiht.

Man könnte nach dieser Kritik Nietzsches an Darwins Evolutionismus nun bezweifeln, ob es denn wirklich eine Übereinstimmung zwischen Kallikles und Nietzsche gibt. Meint nicht Kallikles, dass der Edlere unter natürlichen Verhältnissen triumphiert? Hingegen Nietzsche bedauert, dass es auch in der Natur im Regelfall tatsächlich zuungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen läuft. Ein Widerspruch? Wenn ja, warum auch nicht? Kallikles Gedanke ist Nietzsche ein lohnendes Thema, doch kein unberührbares Dogma. 

Der französische Philosoph und führende Nietzsche-Interpret Gilles Deleuze führte dazu in seinem zu Kultstatus gelangten Buch „Nietzsche und die Philosophie“ im zweiten Kapitel unter Punkt 9. „Das Problem des Messens der Kräfte“ erhellend aus: „Wie verwandt scheint uns dabei Nietzsche dem Kallikles, dieser wird unmittelbar durch Nietzsche zur Vollendung geführt. Kallikles ist bemüht, Natur und Gesetz zu unterscheiden. Er nennt Gesetz alles das, was eine Kraft von dem trennt, was sie kann; in diesem Sinne bringt es den Triumph der Schwachen über die Starken zum Ausdruck. Nietzsche setzt hinzu: Triumph der Reaktion über die Aktion. Reaktiv ist in der Tat alles, was eine Kraft abtrennt; reaktiv ist weiterhin der Zustand einer Kraft, die von dem getrennt ist, was sie kann. Aktiv demgegenüber ist jede Kraft, die bis ans Ende ihrer Macht geht. Wenn eine Kraft so weit vorstößt, dann ist dies kein Gesetz, vielmehr dessen Gegenteil.“

Der Sachverhalt verdeutlicht sich vielleicht weitergehend über eine kurze Reflektion der für Nietzsches Denken und überhaupt für seine Konzeption vom Übermenschen besonders bedeutsamen Idee vom „Willen zur Macht“. Nach der Auffassung von Gilles Deleuze besagt der „Wille zur Macht“ nicht, dass der Wille Macht will (etwa im Sinne von politischer Herrschaft über Unterworfene). Vielmehr muss der „Wille zur Macht“ dahin gehend interpretiert werden: „Die Macht ist das, was im Willen will. Die Macht ist das genetische und differentielle Element im Willen. Daher ist der Wille zur Macht wesentlich schaffend.“ Könnte man in diesem Zusammenhang nicht auch ganz plakativ von einem Streben nach schöpferischer Selbstverwirklichung sprechen? Oder mit den Worten von Deleuze gesprochen: „Die Welt ist weder wahr noch wirklich – sie lebt. Und die lebende, lebendige Welt ist Willen zur Macht, Willen zur Täuschung, der sich in diversen Mächten vollzieht. Es gibt keine gedachte Wahrheit der Welt und keine sinnliche Realität der Welt, alles ist Wertschätzung, gerade und vor allem auch des Sinnlichen und des Wirklichen. Demgegenüber ist die andere Qualität des Willens zur Macht jene, unter der das Wollen dem ganzen Leben entspricht, eine höhere Macht zum Falschen, zur Täuschung, eine Qualität, unter der das Leben insgesamt bejaht und im Besonderen aktiv wird.“
Und so lehrt auch Nietzsches Zarathustra: „Der Wille ist ein Schaffender. Es ist das eigentliche Herrenrecht, Werte zu schaffen.“ Nietzsches Kunstfigur vom Übermenschen muss demnach zu aller erst als Künstlerphilosoph gedacht werden, als Verkörperung einer lebendigen – Lebenswerte verwirklichenden - Schaffenskraft, die in sich und durch sich den Nihilismus – die Entwertung von Leben - überwindet.  An anderer Stelle schreibt Deleuze: „Der Mensch, der zugrunde gehen und überwunden werden will, ist der Vorfahre und Vater des Übermenschen. Der Zerstörer aller bekannten Werte, der Löwe mit dem heiligen Nein leitet seine letzte Metamorphose ein: er wird Kind.“ – Man könnte nun sagen: Am ehesten repräsentiert sich Nietzsches Fiktion vom Übermenschen wohl über die Wirklichkeit nonkonformistischer Aussteiger, die das Wagnis eines selbstbestimmten Lebens jenseits normativer Zwänge der Gesellschaft auf sich nehmen. Sie verweigern eine Entsprechung mit den herrschenden Gesetzen (Sitten, Moral, Bräuche, Konventionen, Gesetze des Staates) und führen stattdessen ein – naturrechtlich legitimiertes - anarchisches Leben. Kallikles – selbst durch und durch ein reaktionäres Gemüt - würde sich gegen diese Verbiegung seines aristokratischen Denkens, hin zu experimentellen Lebensformen alternativer Subkulturen, vermutlich mit Vehemenz zur Wehr gesetzt haben.

(ha; 12/2002)


Literaturtipps zum Thema:

Platon: „Euthyphron, Alkibiades, Gorgias, Menexenos“
Insel, Frankfurt, 1991. 459 Seiten.
ISBN 3-4583-3102-6
ca. EUR 10,-. 
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Gilles Deleuze: „Nietzsche und die Philosophie“
Europäische Verlagsanstalt (eva), 1991. 249 Seiten.
ISBN 3-4344-6070-5
ca. EUR 14,50. 
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Und für Zwischendurch, sozusagen als Westentaschenliteratur:
Gilles Deleuze: „Nietzsche – Ein Lesebuch von Gilles Deleuze“
Merve Verlag Berlin, 1979. 124 Seiten.
ISBN 3-8839-6003-9
ca. EUR 7,50. 
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