(....) Die Juden sind ein merkwürdiges Volk. Zu allen Zeiten hat man damit gerechnet, dass sie verschwinden, und trotzdem gibt es sie noch. Zu allen Zeiten waren sie klein an Zahl, und trotzdem sind sie sich selbst - und ihren Feinden - groß erschienen. Zu allen Zeiten haben die Überzeugungen und Wertvorstellungen der Juden die Mehrheitsgesellschaft herausgefordert und immer wieder deren Missfallen erregt. Zu allen Zeiten wurden Juden in großer Zahl umgebracht, haben ihren Glauben unter Zwang oder aus freien Stücken aufgegeben, doch es blieben genügend übrig, die sich dafür entschieden, ihr jüdisches Anderssein beizubehalten, um den Weg weiterzugehen.
Niemand bezweifelt - nicht einmal ihre Feinde -, dass die Juden das kreativste aller kleinen Völker in der menschlichen Geschichte waren. Von den Propheten der Bibel über die Rabbiner des Talmuds, die Dichter und Philosophen des Mittelalters bis zu den Schriftstellern, Komponisten und Gelehrten der Neuzeit haben die Juden in der Geistesgeschichte der Menschheit stets eine herausragende Rolle gespielt. Warum das so ist, bleibt ein Rätsel. Manche haben die Antwort in dem Schicksal gesucht, das Gott für die Juden bestimmt hat. Andere sahen den Grund in dem unablässigen Druck, dem die Juden fast ununterbrochen durch Antisemiten ausgesetzt waren. Wir, die Autoren, finden die Antwort in der Kontinuität des Charakters der Juden.
Zweifellos waren der jahrhundertelange Glaube an ihre Erwähltheit und der jahrhundertelange Widerstand gegen ihre Feinde die Hauptkräfte bei der Herausbildung dieses Charakters, doch das jüdische Wesen hat inzwischen eine Eigendynamik angenommen. Was wir in diesem Buch beschreiben, sind die näheren Umstände, unter denen dieser Charakter geformt wurde und wie er sich änderte, auch wenn er seit der Zeit des Stammvaters Abraham vor etwa viertausend Jahren im wesentlichen derselbe geblieben ist. Von einer Generation zur nächsten sind die Juden Abraham nachgefolgt - indem sie anders waren, indem sie auf ihrem Anderssein beharrten.
Deshalb ist dies ein Buch, das Anstoß erregt. Es schlägt allen höflichen und politisch korrekten Porträts der Juden ins Gesicht. Es untersteht sich, den unwandelbaren jüdischen Charakter zu definieren.
(...)
Die Befürchtung, in Klischees zu verfallen, stellt sich merkwürdigerweise nicht ein, wenn es um die Charakterisierung anderer nationaler Gemeinschaften geht. Die Beobachtung Alexis de Tocquevilles aus dem Jahr 1835, die Nordamerikaner seien im großen und ganzen ein praktisch denkendes und auf die Lösung von Problemen ausgerichtetes Volk, wird nach über einhundertsechzig Jahren noch immer in Darstellungen des amerikanischen Nationalcharakters regelmäßig zitiert. Ebenso üblich ist es, sich ohne Hemmungen über den französischen, deutschen oder italienischen Nationalcharakter zu äußern. Vor über dreißig Jahren wurde sogar Luigi Barzinis Buch "Die Italiener", in dem er die "großen Leitmotive" und "unveränderlichen Merkmale" des italienischen Volkes seit undenklichen Zeiten darstellte, zu einem internationalen Bestseller. Niemand erhob Einwände gegen seine Feststellung, dass die Italiener eine unwiderstehliche Neigung hätten, von Julius Cäsar bis zu Benito Mussolini der Faszination von Diktatoren zu erliegen. Doch sobald man von einem unwandelbaren jüdischen Charakter spricht, spüren viele Juden ein spontanes Unbehagen.
Man könnte sagen, das Problem liege in den Schwierigkeiten, Judentum zu definieren. Je nach den Umständen wurden die Juden als Religionsgemeinschaft, Gesellschaft, Nation, Klasse, Rasse oder als eine Kombination mehrerer dieser Kategorien definiert. In Wirklichkeit haben die Ängste, die dieses Buch auslöst, mit den endlosen Debatten darüber, was einen Juden ausmacht oder wer ein Jude ist, nichts zu tun. Sie reichen tiefer. Wenn wir öffentlich und in vielen Sprachen darauf beharren, dass es einen bestimmbaren jüdischen Charakter gibt, so steht dies im Widerspruch zu einer anderen Botschaft, die von unterschiedlich stark assimilierten Juden seit knapp zweihundert Jahren, seit dem Beginn ihrer Emanzipation in Europa ausgeht: dass sie gute Franzosen, gute Deutsche oder gute Amerikaner und damit letztlich nicht anders als alle anderen seien.
Es gibt noch einen weiteren, dunkleren Grund für diese instinktive Ablehnung des Unternehmens, jüdische Gruppenmerkmale zu definieren. Er rührt aus dem Erbe des Judenhasses, der in unserer eigenen Zeit so monströse Ausmaße annahm, dass er fast die Gesamtheit der europäischen Juden vernichtet hätte. Deshalb können wir verstehen, warum viele Juden die Existenz gemeinsamer jüdischer Charakterzüge bestreiten. Wer eine solche Behauptung aufstellt, so ihr Einwand, ist entweder ein Antisemit, der uns durch Ausschließung definiert, oder ein irregeleiteter oder an Selbsthass leidender Jude, der die Position des Feindes stärkt. Nur wer
uns übelwill, kann das Bedürfnis haben, uns als etwas Besonderes zu definieren - als anders als die anderen. Diese vorsichtige und defensive Haltung ist verständlich, doch widerlegt sie unsere These nicht, dass es einen bestimmbaren jüdischen Charakter gibt, der mit dem ersten Juden - Abraham - begann und bis zum heutigen Tag fortdauert. Es ist unser Ziel, Juden so zu beschreiben, wie sie wirklich sind, und nicht wie eine Werbeagentur sie zur Wahrung jüdischer Interessen in einer Imagekampagne vielleicht darstellen würde.
Wohlgemerkt, es geht hier nicht um ein oberflächliches Porträt, das die jüdische Identität auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner oder auf einige wenige Klischees reduziert. Unsere Absicht ist es, die Dinge zu klären, nicht sie zu vereinfachen. Um unser Porträt der Juden entwerfen zu können, haben wir einen Begriffsrahmen geschaffen, innerhalb dessen der jüdische Charakter durch drei Grundbegriffe bestimmt wird: der Jude als Erwählter, als Aufrührer und als Außenseiter.
(...)
Der wesentliche Unterschied zwischen diesem Buch und anderen zeitgenössischen Werken zu diesem Thema liegt darin, dass die meisten Autoren über die Juden einen Standpunkt der Gegenwart einnehmen und von dort aus in die Vergangenheit zurückblicken. Wir sind den umgekehrten Weg gegangen und haben bei der Urquelle der jüdischen Identität angefangen. Das innerste Wesen des Juden war unserer Überzeugung nach bereits in der Person Abrahams angelegt und ausgebildet. Es wurde jahrhundertelang immer wieder von Juden bekräftigt, die bereit waren, lieber die Erniedrigungen des Exils zu ertragen oder gar ein Martyrium auf sich zu nehmen, als ihrem Glauben abzuschwören. Für uns lässt sich der jüdische Charakter mit einem alten Fluss vergleichen, der sich in ein Delta - unsere heutige Zeit - ergießt und dort in viele Arme verzweigt. Doch die eigentliche Kraft geht vom Fluss aus. Es sind nicht die einzelnen Arme, die
in den Fluss münden, es ist der Fluss, der in seine Arme mündet, und die Kraft seiner Strömung hat das jüdische Volk
bis auf den heutigen Tag am Leben erhalten. Deshalb muss in unseren Augen ein wirklich erfolgversprechender Ansatz zu einem Verständnis der jüdischen Identität von den fundamentalen Quellen ausgehen, der hebräischen Bibel und dem Talmud, der Aufzeichnung von Kommentaren und Neudefinitionen der Bedeutung der Heiligen Schrift, die sich über acht Jahrhunderte erstrecken. In diesem Buch beschreiben wir die wesentlichen und überdauernden Merkmale der Juden am Beispiel
von bedeutenden Persönlichkeiten der Vergangenheit und Gegenwart, in denen sich die Kämpfe, die Ambivalenzen und die Sehnsüchte des jüdischen Volkes in entscheidenden Augenblicken ihrer Geschichte verkörpert haben. Diese Menschen ragen heraus, weil jeder von ihnen ein dauerhaftes Element des jüdischen Charakters repräsentiert. Man sollte darüber allerdings nicht vergessen, dass die heutige Existenz des jüdischen Volkes sich der Hartnäckigkeit und dem Mut der jüdischen Massen verdankt, die sich entschieden haben, ihren Weg fortzusetzen, selbst wenn das Terrain noch so viele Gefahren bergen mochte. (...)


(Aus "Wer ist Jude? Wesen und Prägung eines Volkes" von Arthur Hertzberg, Aron Hirt-Manheimer.
Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert.)

Eine kurze Geschichte des Judentums: Der jüdische Religionswissenschaftler und ehemalige Rabbiner Arthur Hertzberg wagt es, eine Charakteristik der jüdischen Gemeinschaft zu entwerfen. Dabei konzentriert er sich im wesentlichen auf folgende Punkte: das Selbstbewusstsein, auserwählt zu sein, als Verpflichtung zu einer universellen Ethik für die Menschheit; die Erfahrung, immer und überall ausgeschlossen zu bleiben und sich beständig gegen eine fremde soziale und kulturelle Umwelt neu bestimmen zu müssen; und eine pluralistische, antidogmatische Tradition, aus der eine sich stets neu definierende, kosmopolitische Kultur erwachsen ist.. 
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