In hoc apparuit Dei in nobis

(1 Joh 4,9)

"Darin ist uns Gottes Liebe erschienen und in uns sichtbar geworden, daß Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir mit dem Sohn und in dem Sohn und durch den Sohn leben"; denn alle, die nicht durch den Sohn leben, denen geht es wahrlich nicht gut.

Gäbe es irgendwo einen reichen König, der eine schöne Tochter hätte: verheiratete er diese mit dem Sohn eines armen Mannes, dann würden alle, die zu dessen Familie gehören, dadurch erhöht und geadelt. Nun sagt ein Meister (Thomas): Gott ist Mensch geworden, (und) dadurch ist das ganze Menschengeschlecht erhöht und geadelt. Wir können uns sehr darüber freuen, daß Christus, unser Bruder, aus eigener Kraft über alle Engelschöre aufgefahren ist und zur rechten Hand des Vaters sitzt.
Dieser Meister hat recht gesprochen, aber ich gäbe wahrlich nicht viel darum. Was würde es mir helfen, wenn ich einen reichen Mann zum Bruder hätte, und ich bliebe dabei ein armer Mann? Was würde es mir helfen, wenn ich einen weisen Mann zum Bruder hätte, und ich bliebe dabei ein Tor?
Deshalb sage ich etwas anderes und Tieferes: Gott ist nicht nur Mensch geworden, sondern er hat die menschliche Natur angenommen.

Alle Meister sagen, die Menschen seien alle ihrer Natur gleich edel. Ich sage wahrheitsgemäß aber (darüberhinaus): Alles Gute, das alle Heiligen und Maria, die Mutter Gottes, und das Christus nach seiner Menschheit besessen hat, ist mein eigen, soweit ich zu dieser Natur gehöre.
Nun könntet ihr mich fragen: wenn ich in dieser Natur alles habe, was Christus nach seiner Menschheit sein kann, woher kommt es dann, daß wir Christus erhöhen und als unsern Herrn und Gott verehren? Der Grund ist, daß er als Bote von Gott zu uns gekommen ist und unser Heil gebracht hat. Das Heil, das er uns brachte, war (bereits) unser. (Denn) dort, wo der Vater seinen Sohn im innersten Grunde gebiert, dort geht diese Natur mit ein. Diese Natur ist eins und einfaltig. Es kann dort wohl etwas hervorschauen und etwas daran hängen, aber das ist dieses Eine nicht.

Ich sage weiter und schwerer (erstens): wer unmittelbar in der Nacktheit dieser Natur verweilen will, der muß von aller persönlichen Eigenart frei sein, so daß er dem Menschen, der jenseits des Meeres wohnt (und) den er nie mit Augen gesehen hat, soviel Gutes gönnt wie dem Menschen, der ihm nahe und sein vertrauter Freund ist. Solange du deiner Person mehr Gutes gönnst als dem Menschen, den du nie gesehen hast, bist du wahrlich nicht auf dem rechten Weg, und du hast noch keinen einzigen Augenblick in diesen einfaltigen Grund gesehen. Du kannst vielleicht in einem Abziehbild die Wahrheit wie in einem Gleichnis gesehen haben, aber das war nicht das Beste.
Zweitens mußt du reinen Herzens sein: das Herz allein ist rein, das alle Geschöpflichkeit zunichte gemacht hat.
Drittens mußt du frei sein vom "Nicht". Man fragt, was in der Hölle brennt. Die Meister antworten alle: das tut der Eigenwille. Ich aber sage wahrheitsgemäß. daß das "Nicht" in der Hölle brennt. Höre dazu ein Gleichnis:
Man nehme eine glühende Kohle und lege sie auf meine Hand. Würde ich nun sagen, die Kohle brenne meine Hand, so täte ich ihr sehr unrecht. Soll ich genau sagen, was mich brennt? Es ist das "Nicht", denn die Kohle hat etwas in sich, was meine Hand nicht hat. Seht, eben dieses "Nicht" brennt mich.. Hätte meine Hand all das in sich, was die Kohle ist und leisten kann, dann hätte sie ganz und gar die Natur des Feuers. Nähme einer dann alles Feuer, das je gebrannt hat, und schüttete es auf meine Hand, es könnte mich nicht schmerzen. Ebenso sage ich: weil Gott und alle, die Gott anschauen, im seligen Zustand etwas in sich haben, was jene nicht haben, die von Gott getrennt sind, deshalb peinigt dieses "Nicht" die Seelen in der Hölle mehr als Eigenwille oder irgendein (wirkliches) Feuer. Ich sage wahrheitsgemäß: soviel dir vom "Nicht" anhaftet, so weit bist du unvollkommen. Deshalb (sage ich):: wollt ihr vollkommen sein, dann müßt ihr vom "Nicht" frei sein.

Wenn darum der kurze Text, den ich euch vorgelegt habe, sagt: "Gott hat seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt", dann dürft ihr das nicht (nur) auf die äußere Welt beziehen, in der er mit uns aß und trank, sondern ihr müßt es (auch) im Sinne der inneren Welt verstehen:
So wahr der Vater in seiner einfaltigen Natur seinen Sohn gemäß seiner Natur gebiert, so wahr gebiert er ihn in das Innigste des Geistes, und dies ist die innere Welt. Da ist Gottes Grund mein Grund und mein Grund Gottes Grund. Da lebe ich ebenso aus meinem Eigenen, wie Gott aus seinem eigenen lebt. Wer nur einen Augenblick in diesen Grund sähe, dem wären tausend Mark roten, geprägten Goldes wie ein falscher Heller.

Aus diesem innersten Grunde sollst du alle deine Werke ohne Worumwillen wirken. Ich sage wahrheitsgemäß: solange du deine Werke um des Himmelreiches oder um "Gottes" oder um deines ewigen Heiles willen, also von außen her, wirkst, so lange ist es wahrlich nicht recht um dich bestellt. Du bist zwar in Ordnung, aber das ist noch nicht das Beste. Denn wahrlich, wenn einer (du) wähnt (wähnst), in Innerlichkeit, Andacht, wohltuender Verzücktheit und in besonderer Begnadung Gottes mehr zu erhalten als beim Herdfeuer oder im Stall, dann tust du nichts anderes, als wenn du Gott nähmst, wändest ihm einen Mantel um das Haupt und schöbest ihn unter eine Bank. Wer nämlich Gott in einer (besonderen) Weise sucht, der nimmt die Weise (der Frömmigkeit) und verfehlt Gott, der in der Weise verborgen ist. Wer aber Gott ohne (besondere) Weise sucht, der nimmt ihn, wie er in sich selbst ist, und ein solcher Mensch lebt mit dem Sohn und ist das Leben selbst.
Fragte einer das Leben tausend Jahre lang:: warum lebst du? - es würde antworten, wenn es sprechen könnte: ich lebe darum, daß ich lebe. Das kommt daher, daß das Leben aus seinem eigenen Grund lebt und aus sich selber quillt. Darum lebt es ohne Worumwillen eben darin, daß es sich selber lebt. Wenn einer einen wirklichen Menschen, der aus seinem eigenen Grund wirkt, fragt: warum wirkst du deine Werke? - dann spräche dieser, sollte er genau antworten: ich wirke darum, daß ich wirke.

Wo kein Geschöpf mehr ist, da beginnt Gott zu sein. Gott will also nicht mehr von dir, als daß du dich selbst deiner geschöpflichen Seinsweise nach verläßt und Gott Gott in dir sein läßt. Das kleinste geschöpfliche Bild, das sich jemals in dich hinein abbildet, ist so groß, wie Gott (in dir) groß ist. Warum? Weil es dich an einem ganzen Gotte hindert. Wo dieses Bild (in dich) eingeht, da muß Gott weichen und (mit ihm) seine ganze Gottheit. Wo aber dieses Bild ausgeht, da geht Gott ein. Gott wünscht so sehr, daß du aus dir selber seiner geschöpflichen Seinsweise nach herausgehst, als läge sein ganzes Glück darin. Also, lieber Mensch, was schadet es dir, wenn du Gott gönnst, in dir Gott zu sein? Geh völlig aus dir heraus um Gottes willen, so geht Gott völlig aus sich selbst heraus um deinetwillen. Wenn diese beiden herausgehen, dann ist das, was bleibt, ein einfaltiges Eins. In diesem Einen, im innersten Quellgrund, gebiert der Vater seinen Sohn. Dort entfaltet sich als Blüte der Heilige Geist, und dort entspringt in Gott ein Wille, der der Seele zugehört. Solange dieser Wille von allen Geschöpfen und von aller Geschöpflichkeit unberührt bleibt, ist dieser Wille frei. Christus spricht:: "Niemand kommt zum Himmel, als wer vom Himmel gekommen ist" (Joh 3,13). Alle Dinge sind aus nichts geschaffen. Das Nichts ist darum ihr wahrer Ursprung, und soweit sich dieser edle Wille den Geschöpfen zuwendet, soweit verfließt er mit den Geschöpfen in ihr Nichts.

Nun fragt man, ob sich dieser edle Wille soweit verströmt, daß er nie wieder zurückkommen könne. Die Meister sagen im allgemeinen, er komme nie wieder zurück, soweit er mit der Zeit verströmt sei. Ich aber sage: wenn jemals dieser Wille sich von sich selbst und aller Geschöpflichkeit zurück(zieht) und (nur) einen Augenblick in seinen ersten Ursprung kehrt, dann kehrt er (wieder) zu seiner (ursprünglichen) freien Art (zurück) und ist frei; und in diesem Augenblick wird alle (scheinbar) verlorenen Zeit wieder eingebracht.

Die Leute sagen oft zu mir: "Betet für mich". Dann denke ich: warum geht ihr aus? Warum bleibt ihr nicht bei euch selbst und greift in euer eigenes Gut? Ihr tragt doch alle Wahrheit seinsgemäß in euch!
Daß wir in solcher Weise wahrhaft innen bleiben können, daß wir alle Wahrheit unmittelbar und ohne Unterschiedenheit in vollem Glück besitzen, dazu helfe uns Gott! Amen.


 

(Meister Eckharts Predigt über das Johannesevangelium 4,9;
aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt von Dietmar Mieth;
Patmos Verlag 2002
)