Die drei Perlen

Als Gott Adams reinen Leib erschuf, formte er ihn aus Erde, hauchte ihm Seinen heiligen Atem ein und sprach zu Gabriel: "Hole aus dem Meer meiner Allmacht drei Perlen, lege sie auf einen Teller aus Licht und biete sie Adam an, dass er sich eine davon aussuche." Die drei Perlen aber waren Vernunft, Glaube und Demut.
Gabriel reichte Adam den Teller und teilte ihm Gottes Wille mit. Vom göttlichen Licht erleuchtet, wählte Adam die Perle der Vernunft. Nun wollte Gabriel den Teller mit den zwei noch verbliebenen Kleinodien zum Meer der Allmacht zurücktragen, doch sie wogen so schwer, dass er sie nicht zu heben vermochte. Da sprachen die Perle des Glaubens und die Perle der Demut zu ihm: "Wir können uns von der heiligen Gegenwart unserer Freundin Vernunft nicht losreißen, ohne sie können wir uns nirgendwo auf Dauer niederlassen, ja können wir nicht einmal existieren. Seit unvordenklichen Zeiten sind wir drei die Juwelen im Bergwerk der göttlichen Herrlichkeit. Die Perlen des Meeres der Allmacht sind untrennbar."
Darauf ertönte Gottes Stimme. "Gabriel, lass die zwei Perlen da, wo sie sind, und komm zurück!" Und so ließ sich die Vernunft auf den Gipfel des menschlichen Geistes nieder; der Glaube schmiegte sich in Adams reines und fühlendes Herz; und Demut herrschte auf seinem heiligen Antlitz.
Diese drei Perlen sind das Erbteil der Kinder Adams. Jeder Abkömmling Adams, den diese Perlen nicht schmücken und der nicht in ihrem Glanz erstrahlt, ist vom Licht ausgeschlossen und aller wahren Erkenntnis beraubt.


(Jalal od-Din Rumi; 1207-1273)