Adam und Eva

Der größte Vorteil der Bibel-Geschichte über unsere Stammeseltern ist der, dass sie unverständlich ist. Denn gewiss spricht sie uns gerade deshalb viel stärker an als irgendwelche rationalen Beweisführungen. Eben aus diesem Grund meinte wohl auch Lew Schestow, man könne sich nur schwer vorstellen, dass sich einige der Schrift nicht mächtige Hirten diesen rätselhaften Mythos ausgedacht hätten, der den Denkern zweier Jahrtausende bereits einiges Kopfzerbrechen bereitet hat.
Ein Paradies, in dem es keine Krankheit und keinen Tod gibt - darin zwei restlos glückliche Menschen. Dass sie den verbotenen Apfel vom Baum der Erkenntnis essen, deutet die menschliche Fantasie nur allzu gern als sexuelle Erfüllung, aber John Milton hält sich in seinem Werk "Das verlorene Paradies" [in der Übersetzung von Hans Heinrich Meier, Reclam, Stuttgart, 1978, 4. Buch, Vers 658ff.] bei seiner eindringlichen Beschreibung der Liebe von Adam und Eva als Teil ihres paradiesischen Daseins an eine andere Tradition:

So sprach die Mutter von uns allen, und
Mit Blicken, die den Gatten lockend suchen,
Unangefochten, in Ergebung sanft
Lehnte sie hin auf unsern ersten Vater,
Ihn halb umfangend; ihre halbe Brust
Traf, nackt und schwellend, durch den goldnen Fluss
Der Ungebundnen Flechten, auf die seine.

Wofür steht nun aber der Baum der Erkenntnis? Es gibt viele Interpretationen. Da sind etwa die jüdischen Bibelkundigen, die einen verborgenen Sinn aus den hebräischen Texten herauslesen. Wer jedoch unsere Zivilisation beobachtet - mit all ihren Sackgassen, in die sich der Verstand verrannt hat -, der wird aus der Stimme der Schlange die Verlockungen des Rationalismus heraushören. Wieder andere hingegen behaupten, dass mit dem Essen der verbotenen Frucht die Geschichte der Menschheit beginnt, denn vor diesem Genuss lebten Adam und Eva ohne Bewusstsein - ein animalisches Leben. So hatte Satan, die Schlange, mit der Prophezeiung recht, dass ihnen die Augen geöffnet werden. Doch auch der Schöpfer selbst hatte recht, als er sie warnte, sie müssten sterben, wenn sie diese Frucht kosteten. Am häufigsten wird jedoch auf das absolute, bedenkenlose Gottvertrauen verwiesen, das beide besaßen, bevor sie das Verbot überschritten. Die Katastrophe erfolgte dann, als sie Ihn auf das Niveau der von Ihm geschaffenen Wesen herabziehen wollten, und Ihn der Eifersucht bezichtigten. Also war ihre erste Sünde eigentlich ein Akt des Hochmuts.
Warum bemerkten sie erst, nachdem sie das Gebot gebrochen hatten, dass sie nackt waren, und warum schämten sie sich dann? Das ist sicher wichtig, aber es ist völlig unverständlich. Man könnte endlos darüber nachgrübeln. Sie waren in die Geschichte, in die Zivilisation eingetreten - aber
ist denn die Nacktheit deren Negation? War das der Grund, dass Gott ihnen Kleidung aus Tierfellen nähen musste? Und warum hatte dieser eine, doch so kurze Moment solche ungeheuren Konsequenzen: nämlich nicht nur ihren eigenen Tod, sondern auch die Transformation der ganzen Natur? Denn auch die Natur war ja vorher unsterblich gewesen. Doch auch das war noch nicht alles, denn eine weitere Folge war ja noch die Erbsünde, die auf jedem Mann und jeder Frau durch unzählige Generationen hindurch lasten sollte. Zum Glück wird in der katholischen Theologie die Erbsünde zu den Geheimnissen des Glaubens gerechnet, und man bemüht sich gar nicht erst zu erklären, wie es kommt, dass wir sie erben.
Im tiefsten Inneren unseres Wesens sind wir überzeugt davon, dass wir ewig leben sollten. Wir empfinden unsere Vergänglichkeit und Sterblichkeit als etwas, das uns mit Gewalt aufgezwungen wurde. Nur das Paradies ist authentisch, die Welt ist es nicht - und sie besteht auch nur temporär. Deshalb spricht auch die Erzählung vom Sündenfall unsere Gefühle so an, als ob sie eine alte Wahrheit wieder in unser schlummerndes Gedächtnis zurückriefe.


(Aus "Mein ABC" von Czeslaw Milosz)

Der polnische Weltbürger und Nobelpreisträger Czeslaw Milosz hat mit seinem ABC eine besondere Autobiografie geschrieben. Aus den Mosaiksteinen "von Adam und Eva bis Zentrum und Peripherie" erhält man mit der Fülle von Orten und seelischen Zuständen ein faszinierendes Porträt des Dichters.
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