Leonid Zypkin: "Ein Sommer in Baden-Baden"


Verspätet

Eine Zugreise nimmt geraume Zeit in Anspruch, und viele Reisende vertreiben sich diese durch verschiedenste Beschäftigungen, von denen Lesen wohl eine der am häufigsten anzutreffenden sein dürfte. Auch der namenlose Erzähler in Leonid Zypkins Roman "Ein Sommer in Baden-Baden" hat ein Buch als Reisebegleiter auserkoren auf seiner Fahrt von Moskau nach Leningrad. Es handelt sich um das Tagebuch von Anna Grigorjewna, der jungen Frau und großen Liebe von Fjodor Dostojewski, und handelt von deren 1867 gemeinsam unternommener Reise in die Sommerfrische nach Baden-Baden.

Man nimmt an den Hoffnungen Annas auf Besserung ihrer finanziellen Verhältnisse Anteil, denn die Reise nach Deutschland ist auch eine Flucht vor Dostojewskis Schulden. Dostojewski ist leidenschaftlicher Spieler und hat seine verzehrende Leidenschaft auch zum literarischen Thema in seinem Buch "Der Spieler" gemacht. Seinem Laster kann er allerdings auch im Urlaub nicht entkommen, denn zu groß ist die Versuchung, am Spieltisch sein Glück zu versuchen. Anfänglich läuft es auch gut, und die Gewinne stellen sich ein. Doch nach dem geflügelten Wort "Wie gewonnen so zerronnen" schmelzen die Gewinne dahin, bis Dostojewski in Pfandhäusern alles versetzt, sogar die Eheringe und den Schmuck seiner Frau.
Der Erzähler muss profunder Dostojewski-Kenner sein, denn er ergänzt Annas Angaben ebenso detailliert wie fundiert und fügt zahlreiche Daten und Geschehnisse in die Geschichte ein.

Elliptische Erzählstruktur
Eine zweite Ebene gesellt Zypkin dem Roman durch die Schilderungen des Erzählers hinsichtlich seiner eigenen Reise hinzu. Dabei geschehen diese Wechsel nicht abschnitts- oder satzweise, sondern erfolgen unversehens mitten in einem der ornamentarisch verschlungenen Satzgebilde, kenntlich gemacht nur durch Gedankenstriche. Innerhalb dieser traumähnlichen Passagen lässt Zypkin reale Personen neben Figuren aus Dostojewskis Romanen auftreten oder schwenkt von Beschreibungen Moskaus und St. Petersburgs hin zu einem Wutanfall des Schriftstellers. Die Detailverliebtheit kennt fast keine Grenzen, und so fabuliert der Erzähler über Dostojewskis exaltierte Eskapaden, seine Streitereien mit Turgenjew und seiner Frau; wechseln sich Betrachtungen über Kunst und Literatur ab mit einer Analyse von Dostojewskis Antisemitismus. Die Vielschichtigkeit des Romans entspricht dabei der Vielschichtigkeit von Dostojewskis Charakter und dient gleichzeitig dazu, die komplexen Gegebenheiten im Russland der 1870er Jahre zu verdeutlichen.

Fazit:
Was auf den ersten Blick verwirrend und kompliziert erscheint, entpuppt sich beim Lesen dieses außergewöhnlichen und atmosphärisch dichten Romans als reines Vergnügen. Zypkins Buch wirkt wie ein indianischer Traumfänger mit umgekehrten Vorzeichen und lässt den Leser an Traum- und Albtraum des Ehepaars Dostojewski und des imaginierten Erzählers teilhaben. Darüber hinaus handelt es sich um den Versuch einer poetisch-literarischen Würdigung des großen russischen Dichters, den Versuch einer Liebeserklärung an das gegenwärtige und vergangene Moskau und St. Petersburg und einer Verdeutlichung fremdenfeindlicher Ansichten, im Speziellen bei Dostojewski und im Allgemeinen im zeitgenössischen Russischen Reich. Dabei reicht die Bandbreite der Kunst des Autors von Metaphern und Andeutungen über assoziative Spekulationen und Reflexionen bis hin zu realen Schilderungen der "heutigen Zugfahrt". Ähnlich wie vor einigen Jahren Antal Szerb für die ungarische Literatur wieder entdeckt wurde, handelt es sich bei Zypkins "Sommer in Baden-Baden" um eine der bedeutendsten Wiederentdeckungen der russischen Literatur. Dieser Roman hat unbestreitbar das Format, als Klassiker des zwanzigsten Jahrhunderts in den Kanon der russischen Literatur Eingang zu finden.

(Wolfgang Haan; 03/2006)


Leonid Zypkin: "Ein Sommer in Baden-Baden"
Mit einer Einführung von Susan Sontag.
Aus dem Russischen von Alfred Frank.
Berlin Verlag, 2006. 240 Seiten.
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Leonid Zypkin wurde 1926 als Sohn russisch-jüdischer Eltern in Minsk geboren. Nur knapp überlebte er den stalinistischen Schrecken der 1930er Jahre und die deutschen Angriffe auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Er studierte Medizin und arbeitete als Pathologe in Moskau. Sein literarisches Werk, das bis zu seinem Tod 1982 unveröffentlicht blieb, umfasst neben "Ein Sommer in Baden- Baden" kürzere Erzählungen, Lyrik sowie die autobiografischen Novellen "Die Brücke über den Neroch" und "Norartakir".