Andrzej Zaniewski: "Die Ratte"


Auch wenn sich Andrzej Zaniewski mit seinem Roman in eine lange Tradition der Tierdichtung einreiht, die sich seit der Antike großer Beliebtheit erfreut, überschreitet er den Rubikon der Gattung, indem er Tiere als "Helden" wählt, die zumindest die Menschen des Abendlandes mit Abscheu und Angst erfüllen: Ratten. Kann ein solch ungewöhnliches Sujet mit schauderhaften Schauplätzen wie stinkenden Abwässerkanälen und Kloaken, qualmenden Müllhalden und Ruinen überhaupt das Interesse des Lesers wecken?
Möglich macht das der virtuose Erzählstil des Autors: vorwärtsdrängend, unruhig, getrieben.
Der eigentümliche Rhythmus wird erzielt durch den fortwährenden Wechsel der Erzählperspektive zwischen 1. und 2. Person Singular, gelegentlich auch der 3. Person, wodurch sich Nähe und Distanz ständig abwechseln, und durch den artistischen Gebrauch der Zeiten: Präsens, Präteritum, Futur gehen nahtlos ineinander über. Diese Stilmittel spiegeln überzeugend das gehetzte triebhafte Leben der Ratte. Der pausenlose Ortswechsel tut ein Übriges. Der Leser folgt der Ratte von der Unter- in die Oberwelt und zurück, vom Keller auf die Straße, vom Land auf Schiffe und Inseln, Wechsel von Kontinenten und verschiedenen Klimazonen eingeschlossen. Das alles stiftet eine Atmosphäre von großer Dichte. Dem packenden, mitreißenden Erzähltempo kann man sich nicht entziehen.

Mit angemessenen stilistischen Mitteln wird das "Lebensgefühl" der Ratte wiederzugeben versucht: immer bedroht und immer auf der Hut und auf der Flucht.
Das Dilemma der Ratte als "Romanheld" liegt darin, dass eine Identifikation und ein Wiedererkennen nicht stattfinden, auch wenn der Autor im Vorwort orakelt: "Deshalb vergiss nicht, geschätzter Leser, ich habe, als ich das Leben ... einer Ratte beschrieb, an dich gedacht." (S. 14), nicht stattfinden kann, weil Zaniewski in unzähligen Szenen die Ratten als "Tötungsmaschinen" beschreibt, die unter ihresgleichen am heftigsten wüten. Wie kann der Leser Mitgefühl entwickeln für Tiere, die in der Menschenwelt den allerschlimmsten Schaden anrichten? Die Nachstellungen des Menschen erscheinen so als völlig legitime Notwehr gegen eine alptraumhafte Bedrohung. "Ringsum ein einziges riesiges Meer aus Rattenbuckeln, das die Straße füllt bis an den Horizont." (S. 108) Die Ratte als Parabel? Der Vergleich verbietet sich, es sei denn als düstere mörderische Zukunftsvision, auch wenn man zugesteht, dass es Ratten in Menschengestalt gab und gibt. Eine so radikale Zerstörung jeglicher sozialer Ordnung, wie sie um der Befriedigung des maßlosen Fress- und Geschlechtstriebes willen im Roman immer wieder sichtbar wird, findet, von Ausnahmen abgesehen, auch durchaus großflächig historischen, in der Menschenwelt keine Parallele, weil Tiere keine Ideologien, kein Ethos und kein Schuldgefühl kennen.
Auch ein weiteres Dilemma bleibt bestehen und wird nicht gelöst: Wie stellt man - artgerecht - die Rattenwelt mit dem Bewusstsein eines Menschen dar? Hier stößt man im Roman ständig auf Widersprüche. Teils sind der Ratte die menschlichen Einrichtungen, selbst fachbegrifflich, vertraut, teils sieht sie einfachste Dinge völlig verständnislos an. Und die Projektion menschlicher Merkmale wie "Bewusstsein, Traum, Erinnerung, Sehnsucht" auf die Ratte geht vollends an den biologischen Fakten vorbei. "Angstschauer rieseln mir das Rückgrat entlang." (S. 149)

Am Ende der Lektüre bleiben zwiespältige Empfindungen: Bewunderung für Stil und Komposition, doch Indifferenz gegenüber dem Schicksal blutrünstiger Monster, so dass man sich fragt: Wurde hier der Spezies Ratte eine gerechte Bewertung zuteil oder wurde der tradierte Ekel nur noch weiter geschürt?
Auch bleibt der Eindruck, dass Tierdichtung nur in satirischer Form dauerhaft unsere Aufmerksamkeit weckt, wie Beispiele von E.T.A. Hoffmann, George Orwell bis hin zu Michail Bulgakows "Hundeherz" und Wolfdietrich Schnurres "Die Aufzeichnungen des Pudels Ali" beweisen. Von einer Satire ist der surrealistische Naturalismus Zaniewskis aber weit entfernt.
Mit der vorsorglichen Warnung an zarte Schöngeister, dass es sich bei dem vorgestellten Roman um keine geeignete Urlaubslektüre handelt, möchte ich "Die Ratte" dennoch empfehlen, und sei es nur deswegen, damit man endlich die Nummer des Kammerjägers aus dem Telefonbuch heraussucht und nie wieder Abfälle sorglos herumliegen lässt.

(Diethelm Kaminski, Köln 23.08. 2002)


Andrzej Zaniewski: "Die Ratte"
dtv München 2000
207 Seiten
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