Jules Verne: "20.000 Meilen unter den Meeren"


Letzter Band der neuen, von Volker Dehs edierten Jules Verne-Ausgabe

Ungläubiges Staunen, gepaart mit einer letztendlich für ihn doch auch ungesunden Portion Neugier, spiegelt sich in den großen Augen des Riesenkraken, der auf dem Titelbild aus seinem Unterwasserreich heraus in das Bullauge von Kapitän Nemos Unterseeboot "Nautilus" hinein schaut. Das Bild illustriert eine Begegnung zwischen urweltlicher Naturgewalt und der vom Menschen hervorgebrachten Technik. Und genau darum geht es in diesem Buch, wie auch in zahlreichen anderen Romanen Jules Vernes, um die Konfrontation der technisierten Menschenwelt mit den unüberwindbaren Kräften der Natur, die hier unter anderem von den "Monstern der Tiefsee" repräsentiert werden, und die bis heute immer wieder ihren Tribut vom Menschen einfordern, so wie der Krake sich ja auch einen von Kapitän Nemos Männern angelt. Es ist dieses Faustische, das als das hervorstechendste Merkmal der Helden Jules Vernes gelten kann. Helden, die, wie Kapitän Nemo, stets bestrebt sind, die ihnen gesetzten Grenzen zu überschreiten. Sie stehen unter dem Zwang, tiefer, höher, weiter vorzustoßen, in Regionen, die dem Menschen unzugänglich scheinen. Nur in die Wüste hat der Autor seine Helden und Eroberer nicht geschickt. Ansonsten haben Jules Vernes Helden das Antlitz der Erde in einer beinahe enzyklopädischen Art und Weise erkundet und beschrieben. Julien Gracq spricht in Bezug auf das Gesamtwerk Jules Vernes sogar von "einem enzyklopädischen Werk in der Manie Balzacs". So wie Balzac in seiner "Menschlichen Komödie" versucht habe, das Antlitz der französischen Gesellschaft darzustellen, so habe Jules Verne versucht - ohne natürlich dabei die ästhetische Qualität Balzacs zu erreichen - das Antlitz unseres Planeten darzustellen.

Im vorliegenden Band, dem letzten der von Volker Dehs edierten und neu übersetzten Ausgabe ausgewählter Werke Jules Vernes, sind die Meere das Terrain, das es zu erforschen gilt. Kapitän Nemo, der Konstrukteur und Befehlshaber der Nautilus, ist eine Gestalt, die in ihrem Fanatismus und ihren Rachegelüsten starke Ähnlichkeit mit Melvilles Captain Ahab aufweist. Weit mehr als Ahab jedoch verkörpert Nemo die Zweischneidigkeit des technischen Fortschritts, die besonders dann zum Tragen kommt, wenn ein Mensch wie Kapitän Nemo die technischen Wissenschaften ganz in den Dienst seiner skrupellosen Macht- und Rachegelüste stellt. Technischer Fortschritt geht also bei Jules Verne mit moralischer Fragwürdigkeit einher. "20.000 Meilen unter den Meeren" war nach "Reise um den Mond" mein zweiter Jules Verne Roman, den ich in dieser Neuausgabe gelesen habe, und ich fand ihn interessanter und spannender als den ersten. Ich habe ihn von daher auch mit großem Vergnügen gelesen, wenn auch für mich der oftmals erzwungen wirkende Witz, das Abgedroschene der Dialoge sowie die stereotypen Figuren der Helden und Wissenschaftler bei Jules Verne etwas aufdringlich, um nicht zu sagen, störend wirken. Ähnlich ergeht es mir bei Karl May, bei dem alle großen Helden Deutsche sind, während für Jules Verne Deutsche wohl gar nicht existiert haben, er hat sie komplett verbannt aus seinen Romanen. Sie waren tabu für ihn, wie zum Beispiel auch das Sexuelle ein Tabu für den Schriftsteller Jules Verne war. Dies wird auch im vorliegenden Roman deutlich. Selbst der hier als Inbegriff der Männlichkeit geschilderte Kanadier Ned Land empfindet im Unterwasser-Kerker der Nautilus niemals das Bedürfnis, seine angestauten sexuellen Triebe auszuleben. Ein an der Technik ausgerichteter Modernismus steht also bei Jules Verne einer stark konservativen und nostalgischen Haltung gegenüber moralischen und sozialen Fragen entgegen. Und selbst bei der Technik, die manchmal schon fantastisch anmutet, versucht Jules Verne immer wieder, wissenschaftliche Erklärungen für das von ihm geschilderte Wunderbare zu liefern. Das latent vorhandene fantastische Element ist also bei Verne mehr oder weniger fest im Realen verankert.

Erst der Tatsache, dass die Stoffe Jules Vernes irgendwie prädestiniert für das Medium Film schienen, verdankt der Autor übrigens seinen Eintritt in die Ruhmeshalle der Literatur. In den Adelsstand der schöngeistigen Literatur wurde Jules Verne nämlich erst dann erhoben, als sich das neue Medium Film seiner Werke annahm. Während heutzutage kein Verfasser einer französischen Literaturgeschichte um den Namen Jules Verne herumkommt, findet er beispielsweise in der umfangreichen "Geschichte der französischen Literatur" von Albert Thibaudet (Erstauflage 1936, deutsch 1953) nur auf einer einzigen Seite beiläufig Erwähnung.

Was wäre eine Jules Verne-Ausgabe ohne die grandiosen Original-Illustrationen? Sie machen tatsächlich einen Gutteil des Reizes aus, der auch heute noch von seinen Werken ausgeht. Natürlich fehlen sie auch in dieser Ausgabe nicht, die aber auch sonst kaum Wünsche offen lässt und kurzweilige Unterhaltung und darüber hinaus im Anhang noch viel Wissenswertes zur Entstehungsgeschichte und zum Inhalt des Romans sowie zum Leben und Umfeld Jules Vernes bietet.

(Werner Fletcher; 12/2007)


Jules Verne: "20.000 Meilen unter den Meeren"
(Originaltitel "Vingt mille lieues sous les mers")
Aus dem Französischen neu übersetzt von Volker Dehs.
Mit sämtlichen Illustrationen der französischen Originalausgabe.
Mit einem Nachwort, Anmerkungen, Zeittafel und Materialien zur Entstehung herausgegeben von Volker Dehs.
Artemis & Winkler, 2007. 760 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen