Anthony Bailey: "Vermeer"


Der Meister des Lichts
Anthony Baileys ultimative Vermeer-Biografie


Bis auf ein paar wenige Daten ist trotz seiner heutigen Popularität kaum etwas bekannt über Johannes Vermeer, den geheimnisvollen Maler aus Delft. 1632 als Sohn eines auch als Kunsthändler tätigen Gastwirtes geboren, trat Vermeer 1653 der Delfter St. Lukas-Gilde als Meister bei. Im selben Jahr heiratete er die wohlhabende Catharina Bolnes, mit der er fünfzehn Kinder hatte, von denen elf überlebten. Zwischen 1657 und den frühen 70er-Jahren des 17. Jahrhunderts genoss der Maler die Patronage des Delfter Patriziers Pieter Claeszoon van Ruijven, der ungefähr die Hälfte seiner Bilder erwarb. Gegen Ende seines Lebens litt Vermeer unter finanziellen Schwierigkeiten und starb verarmt im Jahre 1675. Er scheint keine Schüler oder Nachfolger gehabt zu haben, sein erhaltenes Oeuvre umfasst lediglich fünfunddreißig Bilder.

Doch diese mageren gesicherten Fakten lassen unzählige Fragen offen. Bei wem könnte Vermeer seine Ausbildung genossen haben? Wo eignete er sich seine makellose Maltechnik, seinen perfekten Umgang mit der Perspektive und dem Phänomen des Lichts an? Wie sah sein Alltag aus, wo war sein Platz im sozialen, religiösen und künstlerischen Leben Delfts, das seinen politischen und wirtschaftlichen Zenit in den Tagen Vermeers bereits überschritten hatte? Was trieb ihn an, inmitten eines sicherlich turbulenten Haushaltes, umgeben von seiner Ehefrau, einer großen Kinderschar, seiner Schwiegermutter und einer Dienstmagd, solch kontemplative Bilder zu schaffen? Lockte ihn die Sehnsucht nach Stille, flüchtete er in sein Atelier, zeigen seine Bilder seine Ideale, oder widerspiegeln sie die innere Ruhe, die in ihm geherrscht haben mag? Starb der Maler an einem unbekannten organischen Leiden oder nahm er sich seine Probleme und finanziellen Sorgen tatsächlich so sehr zu Herzen, dass er, wie seine Frau Catharina festhielt, "als sei er in einen Wahnsinn verfallen, innerhalb von eineinhalb Tagen von einem gesunden Menschen zu einem Toten geworden ist"?

Anthony Bailey ist ein Biograf, der solche Fragen nicht nur mit ansteckender Begeisterung zu stellen vermag, sondern auch mit gelehrter Hingabe zu beantworten versucht. Er arbeitet die bisherige Vermeer-Forschung weitgehend auf und geht bei aller Lust an der Spekulation jedem noch so kleinen Hinweis zum Leben des Delfter Künstlers wissenschaftlich fundiert nach. Vermutungen werden möglichst durch verschiedenste Quellen untermauert, Lücken mit vergleichbaren Daten, die er etwa aus dem besser dokumentierten Leben anderer Künstler bezieht, geschlossen.

"Anthony Bailey bietet dem Leser alles, was man über diesen geheimnisvollen Maler und seine kleine, aber rührige Heimatstadt Delft in Erfahrung bringen und darüber hinaus mutmaßen kann", urteilte John Updike über das Werk des heute in Greenwich bei London lebenden Autors, der neben seiner fünfunddreißigjährigen Tätigkeit für den "New Yorker" einundzwanzig Bücher, darunter Werke über William Turner und Rembrandt, verfasst hat.

Und tatsächlich überwältigt die Fülle des Wissens, das Bailey in seinem im Original treffend "Vermeer. A View of Delft" betitelten, akribisch recherchierten Buch zusammengetragen hat. Auch wenn man sich manchmal des Gefühls nicht erwehren kann, ein wenig mehr geboten zu bekommen, als man vielleicht tatsächlich wissen möchte, gelingt es Bailey doch, trotz oder vielleicht gerade wegen aller thematischen Ab- und Ausschweifungen ein ungemein facettenreiches Bild eines Künstlerlebens und seines gesellschaftlichen Umfeldes zu vermitteln.

Auch dem untrennbar mit seiner Vita verbundenen künstlerischen Schaffen Vermeers, dessen Ruhm vor allem auf rätselhaften Frauenporträts in von subtilem Licht durchfluteten Interieurs beruht, widmet sich Bailey, der als einer der besten Stilisten seiner Generation ("The New York Times") gilt, mit Detailbesessenheit und poetischen Worten: "In gewisser Weise ist er [Vermeer] in einigen seiner Gemälde der fehlende Mann: die Person, die soeben den Raum verlassen hat oder deren Eintreffen jeden Augenblick erwartet wird. Er kann es kaum erwarten, gefunden, gesehen zu werden, doch während er wartet, malt er Stille."

Das kunsthistorische Wissen über Vermeer kompilierend, beschreibt, vergleicht und analysiert er die wenigen heute bekannten Gemälde, die, teils farbig, teils schwarz-weiß, auch in Baileys Studie abgebildet sind. Er stellt Bezugspunkte zu Zeitgenossen her und hilft, die faszinierenden Bilder in ihrer inhaltlichen Komplexität zu verstehen und aus ihrer Betrachtung mehr als nur einen ästhetischen Genuss zu gewinnen.

Ausgehend von einzelnen Werken wie der berühmten "Malkunst" (um 1665/66), die im Wiener Kunsthistorischen Museum zu bewundern ist, befasst sich Bailey auch mit der hochentwickelten Maltechnik Vermeers. Der offenbar wissenschaftlich interessierte Künstler verwendete wahrscheinlich einfache Hilfsmittel wie die Fluchtpunkt-Schnur und raffinierte Apparaturen wie die Camera obscura oder Okulare, die dazu dienten, einen Gegenstand genau zu betrachten, Unwesentliches auszublenden und so zum wirkungsvollen trompe-l'oeil-"Realismus" seiner Gemälde beitrugen.

Da Baileys keine Grenzen kennendes Erkenntnisinteresse nicht nur der Wertschätzung gilt, die der zu Lebzeiten nur lokal bekannte Maler erst ab dem 19. Jahrhundert langsam am Kunstmarkt und unter Kunsthistorikern zu genießen begann, kommen auch Anekdoten über Fälschungen und andere mit Vermeers Gemälden in Zusammenhang stehende Verbrechen nicht zu kurz. Selbst der Beschäftigung der Musik und der Literatur mit dem Delfter Meister schenkt er seine nicht immer gnädige Aufmerksamkeit.

Einen "seichten Plot (einer vorgetäuschten Schwangerschaft, die mit einem Kissen bewerkstelligt wird) und ein paar erschreckende Anachronismen (knarrende Bettfedern)" attestiert Bailey etwa Deborah Moggachs Erfolgstitel "Tulpenfieber". Ob "Das Mädchen mit dem Perlenohrring" von Tracy Chevalier, Susan Vreelands "Mädchen in Hyazinthblau", "Die Musikstunde" von Katharine Weber oder gar der blutrünstige "Hannibal" des Thrillerautors Thomas Harris, wie dem Delfter Meister kein Detail entgeht, so entkommt auch keine noch so kurze Erwähnung Vermeers und seiner Werke in Büchern unterschiedlichster Qualität und Intention dem wachsamen Auge seines Biografen. Aber vor allem Marcel Proust, einen Wegbereiter der literarischen Beschäftigung mit Vermeer, lässt Bailey in einem eigenen Kapitel ausführlich zur gemeinsamen Leidenschaft für den enigmatischen Niederländer zu Wort kommen.

Doch wie den Zauber der Bilder Vermeers keine noch so eloquenten Worte wirklich zu fassen vermögen, so schmälert auch kein einziges der von Anthony Bailey gelösten oder auch nur zur Diskussion gestellten Rätsel der "Sphinx aus Delft" deren unvergänglichen Reiz, den Proust in seiner "Suche nach der verlorenen Zeit" feiert: "Dank der Kunst verfügen wir, anstatt nur eine einzige Welt - die unsere - zu sehen, über eine Vielheit von Welten, das heißt über so viele, wie es originale Künstler gibt, Welten, die, untereinander verschiedener als jene anderen, die im Unendlichen kreisen, uns viele Jahrhunderte noch, nachdem der Fokus erloschen ist, der sein Ausgangspunkt war - mag dieser Fokus nun Rembrandt geheißen haben oder aber Vermeer -, einen Strahl zusenden, der nur ihnen eigentümlich ist."

(sb; 03/2003)


Anthony Bailey: "Vermeer"
Übersetzt von Bettina Blumenberg.
Siedler, 2002. 302 Seiten. 50 Abbildungen.
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Weitere Buchtipps:

Kunsthistorisches Museum Wien (Hrsg.): "Vermeer. Die Malkunst"

Jan Vermeer van Delft ist einer der bekanntesten holländischen Maler des Barock. Er wirkte in der Epoche des Goldenen Zeitalters der Niederlande, in der das Land eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit erlebte.
Als Ikone der westlichen Malerei war Vermeers Bild immer wieder Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung, wie hier anhand einiger prominenter Beispiele aus dem 20. und frühen 21. Jahrhundert verdeutlicht wird.
Die "Malkunst" diente Vermeer in seinem Atelier als Schaustück für potenzielle Käufer und gilt als sein in Malerei gefasstes künstlerisches Vermächtnis. Das großformatige Hauptwerk entstand wahrscheinlich auf eigene Initiative und nicht in fremdem Auftrag. Es hat zu Lebzeiten des Malers wohl niemals dessen Atelier verlassen. Selbst nach Vermeers Tod setzte seine Witwe trotz finanzieller Schwierigkeiten alles daran, das Bild nicht verkaufen zu müssen. (Residenz)
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Ralph Erdenberger: "Geheimakte Johannes Vermeer"
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