Ludvík Vaculík: "Das Beil"


"Wie konnte das überhaupt geschehen! Einen Deut nur war ich Tag für Tag abgewichen, und nun bin ich ein ganzes Leben weit anderswo." (Seiten 150 f.)

Mitte der Sechzigerjahre besucht ein Prager Journalist seinen Bruder, einen Busfahrer, in der mährischen Provinz. Während der Reise erinnert er sich an Erlebnisse aus Kindheit und Jugend, seine Gedanken kreisen um die Familie, besonders den erst kürzlich verstorbenen Vater. In seinen Assoziationen wechseln Dialoge, Reflexionen, Schilderungen; mehrere Zeitebenen und Stile, die Perspektiven des Sohnes und seines Vaters fließen ineinander. Die erinnerte und für den Roman gewonnene Zeit umfasst die Jahre des Zweiten Weltkrieges und die Vertreibung der Deutschen, die kommunistische Machtergreifung in der Nachkriegszeit, die forcierte Umwandlung der Tschechoslowakei in ein realsozialistisches Land und die tiefgreifende ökonomische und gesellschaftliche Krise zu Beginn der Sechzigerjahre. Im Lebensbild des Vaters, eines überzeugten Kommunisten, erfährt der Sohn sein eigenes politisches und in der Folge berufliches und familiäres Scheitern, erlebt einen Generationenkonflikt vor dem Hintergrund umfassender gesellschaftlicher Umwälzungen.

Der heute achtzigjährige Ludvík Vaculík, von 1969 bis 1989 einer der prominentesten tschechischen Dissidenten, veröffentlichte 1966, am Vorabend des Prager Frühlings, eines seiner zwei bedeutendsten Werke, den autobiografisch gefärbten Roman Das Beil, das Porträt eines Landes in Agonie. Dieses bereits vierzig Jahre alte Schlüsselwerk politisch engagierter Literatur in tschechischer Sprache sparte nicht mit Kritik am Zustand des Landes: an der Trostlosigkeit des Alltags in der Provinz, dem Aufstieg ungeeigneter, ja gefährlich dummer Menschen in Polizei und Partei, der Abschaffung landwirtschaftlichen Privateigentums und der Nutzung von Produktionsgenossenschaften zur gezielten Zerstörung gewachsener dörflicher Sozialstrukturen, dem lockeren Umgang mit Staatsbesitz, der Misswirtschaft und dem Missbrauch in Zeitungsredaktionen und im Gesundheitswesen zum bloßen Machterhalt des Regimes. Auch Tabuthemen wie die sehr realistisch geschilderte Plünderung des Eigentums von vertriebenen Deutschen ließ Vaculík nicht aus.

Im rasch, manchmal unvermutet wechselnden Erinnerungsgeflecht, bei dem oft einzelne Worte, Dinge - wie das titelgebende Beil - und Geschehnisse Assoziationen im Ich-Erzähler auslösen, und in der Mischung mehrerer Vergangenheitsebenen baute der Autor am kollektiven Bewusstsein seiner Generation, die wie keine zuvor Adoleszenz und beginnendes Erwachsenenalter im Sozialismus stalinistischer Prägung erleben musste. Weder dem Ich-Erzähler noch den engeren Familienangehörigen gab er Namen, nur einige Randfiguren tragen tschechische Allerweltsnamen - ihre Schicksale sind keine persönlichen, sie sind typisch für ihr Land und ihre Zeit.

Heute, nach vierzig Jahren und in einem Nachbarland, das das politische Schicksal der Tschechoslowakei nicht teilte, ist nicht jedes erzählte Bild leicht deutbar, nicht mehr jeder kritische Unterton vernehmbar und kann der Leser nicht allen Assoziationen leicht folgen. Doch auch ohne den historischen Kontext des beginnenden Prager Frühlings gewinnt das Buch mit lyrischem Reichtum und stilistischer Brillanz in der vielgestaltigen Darstellung eines prägenden Zeitalters.

(Wolfgang Moser; 03/2006)


Ludvík Vaculík: "Das Beil"
Übersetzt von Miroslav Svoboda und Erich Bertleff.
DVA, 2006. 303 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Ludvík Vaculík wurde am 23. Juli 1926 in Brumov geboren und starb am 6. Juni 2015 in Prag. Lien zur Netzseite des Autors: http://www.ludvikvaculik.cz/.

Weitere Bücher aus der Reihe "Tschechische Bibliothek" der DVA (Auswahl):


Ivan Olbracht: "Die traurigen Augen. Drei Novellen"

Ein Fuhrmann, der nicht mehr ein noch aus weiß und der sich und seine Mähre Julca am Ende an zwei Gojim verdingen muss; ein Schneider, der sich seinen ehelichen Pflichten zu entziehen sucht, weil er sich insgeheim für einen der 36 Gerechten hält; und schließlich Hanas wunderschöne Mandelaugen, Abgründe für Männerseelen, die ihr aber auch nicht dabei helfen, ihren Geliebten als Ehemann durchzusetzen. Die Novellen Ivan Olbrachts sind Glanzstücke tschechischen Erzählens und geben Zeugnis einer Welt, die es längst nicht mehr gibt.
Buch bei amazon.de bestellen

Zikmund Winter: "Magister Kampanus. Ein Historienbild"
Die Schlacht am Weißen Berg 1620 ist ein Angelpunkt der tschechischen Geschichte und ein nationales Trauma. Ähnliches Unheil kehrte wieder in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, in dessen ersten Jahren Zikmund Winters monumentales Historienbild "Magister Kampanus" entstand. Das Leben und Scheitern des Dichters und Gelehrten Johannes Kampanus, des letzten protestantischen Rektors der Prager Karls-Universität, führt mehr als nur ein persönliches Schicksal vor Augen. Dank der kunstvollen Komposition und der lebendigen Schilderungen, die auf einzigartiger Kenntnis der Alltagsgeschichte beruhen, hat "Magister Kampanus" einen Spitzenplatz in der tschechischen Literatur.
Buch bei amazon.de bestellen


Bohumil Hrabal: "Allzu laute Einsamkeit und andere Texte"

In einer Altpapiersammelstelle bündelt Hrabal Bücher, die zum Einstampfen bestimmt sind, weil sich niemand für sie interessiert - oder weil die Zensur es so will. Aber "die Inquisitoren der ganzen Welt verbrennen die Bücher vergebens, und wenn die Bücher Gültiges enthalten, hört man sie im Feuer leise lachen". Die Erfahrung der Wirklichkeit hat ihn zu der Erkenntnis gebracht, dass die Wahrheit, wenn überhaupt, nur in der Kunst zu finden sei. Komisch und sarkastisch, lebensprall und voller melancholischer Skepsis verflicht Hrabal Erlebtes und Erdachtes. Es ist der unnachahmliche Erzählton des "Königs der tschechischen Prosa", als der Bohumil Hrabal (1914-1997) von den Kritikern gerühmt und von den Lesern geliebt wird. Hrabal hat dem Text eine Hommage an Franz Kafka beigefügt, dem er sich ebenso wie dem großen Humoristen Jaroslav Ha
šek nahe fühlte.
Buch bei amazon.de bestellen

Jan Cep: "Der Mensch auf der Landstraße. Erzählungen"
"Ein außerordentlich ruhiger und aufmerksamer Erzähler, voller Sinn für das freundliche, warme, vertrauliche Detail und das Leben der Dinge." So rühmte die Kritik Jan Cep (1902-1974), einen der großen Autoren der katholischen Moderne. In seinen Bildern aus dem mährischen Landleben gelingt es ihm, das ganze Drama der menschlichen Existenz einzufangen: von den seelischen Nöten des Dorfjungen, der zum ersten Mal in die Stadt geschickt wird, bis zu den Geschichtskatastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts. Auch so brisanten Themen wie der Deportation der tschechischen Roma und der wahllosen Gewalt gegen die Okkupanten am Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich Cep gewidmet. Mit seinem kritischen Blick auf die eigene Nation war ihm eine Außenseiterrolle beschieden. Nach der kommunistischen Machtergreifung blieb ihm nur die Flucht. Die Auswahl von großenteils erstmals übersetzten Texten spannt einen Bogen von Ceps Anfängen bis zu seiner Exilzeit.
Buch bei amazon.de bestellen

Egon Hostovský: "Siebenmal in der Hauptrolle"
Dieser Roman ist das hochinteressante Beispiel einer mit einem rein politischen Motiv verknüpften metaphysischen Erzählung. "Ich kenne keine Schilderung der europäischen Dämmerung der dreißiger Jahre, keine Beschreibung des Hexensabbats, der mit dem Zweiten Weltkrieg sein Ende nahm, die so suggestiv ist", urteilte Graham Greene über Egon Hostovskýs bestes Buch, das 1942 in New York zuerst veröffentlicht wurde.
Buch bei amazon.de bestellen

Peter Demetz (Hrsg.): "Fin de Siècle. Tschechische Novellen und Erzählungen"
Fin de siècle, das ist in der tschechischen Literatur die Zeit von Zeyer, Karásek und Arbes, Lešehrad, Marten, Neruda und Theer. Höhenflüge der Empfindsamkeit und der nervösen Fantasie und Abgründe der Leidenschaft und des Mysteriösen finden in ungewöhnlich reicher Sprache kunstvollen Ausdruck in ihrer Dekadenzdichtung. Von den acht Texten des Bandes erscheinen fünf erstmals in deutscher Übersetzung.
Buch bei amazon.de bestellen

Jakub Deml: "Pilger des Tages und der Nacht. Prosa, Lyrik, Tagebuchtexte"
Jakub Deml (1878-1961), der legendäre Solitär der tschechischen Literatur, ist berühmt für seine innovative Bildsprache, die Poesie in seinen surrealen, grotesk-visionären Erzählungen, die in geheimnisvolle Seelenlandschaften führen. Mit Texten der unterschiedlichsten Art aus allen Lebensphasen bildet der Band die wesentlichen Linien dieses Werks ab. "Ich verliebte mich bis über beide Ohren in Jakub Deml ... er versteht auf so kleinen Flächen alle Formen des Schreibens zu entfesseln, ... der Leser wird sich nicht losreißen können, bis er die Lektüre beendet hat." Bohumil Hrabal.
Buch bei amazon.de bestellen

Josef Skvorecký: "Das Basssaxophon. Jazz-Geschichten"
Jazz war die Domäne der Unangepassten in der Nazizeit und unter dem kommunistischen Regime. Niemand hat davon so hinreißend erzählt wie Josef
Škvorecký.
In seinen Erzählungen, die hier erstmals auf deutsch erscheinen, geht es um Erlebnisse und Schicksale junger Menschen, die ihrer Leidenschaft für den Jazz frönen, um Liebesgeschichten und komische Begebenheiten, in denen die politischen Zwänge und Gefahren ebenso aufscheinen wie eine unbändige Lebensfreude.
Buch bei amazon.de bestellen

Ludvík Kundera, Eduard Schreiber (Hrsg.): "Süß ist es zu leben. Tschechische Dichtung von den Anfängen bis 1920"
Der mährische Dichter Ludvík Kundera und der Übersetzer Eduard Schreiber führen durch acht Jahrhunderte tschechischer Dichtung, vom Mittelalter zum Barock und weiter ins neunzehnte und beginnende zwanzigste Jahrhundert. Die Auswahl besticht durch den Reichtum an Themen wie durch formale Vielfalt, nicht zuletzt durch die Qualität der Nachdichtungen, die von renommierten Übersetzern und namhaften Lyrikern geschaffen wurden.
Buch bei amazon.de bestellen