György Dalos: "1956"

Der Aufstand in Ungarn


György Dalos, der bisher vor allem mit ausdrucksvollen und oft auch unterhaltsamen Romanen wie Die Beschneidung (1990), Der Versteckspieler (1994), Die Balaton-Brigade (2006) als Chronist der kleinbürgerlichen Welt des Nachkriegsungarns und des legendären Gulasch-Kommunismus beeindruckte, zeigt nun, dass er ungarische Geschichte auch im Essay meistern kann.

Im Volksaufstand von 1956 versuchten die Ungarn, sich von der sowjetischen Unterdrückung zu befreien. Die Erhebung war ungeplant und brach am 23. Oktober 1956 als spontaner Protest gegen die Gewalt und Lüge des Regimes aus. Die Intervention der Roten Armee löste einen bewaffneten und anfangs erfolgreichen Widerstand aus. Als die Regierung Imre Nagy allmählich den Forderungen der Aufständischen nachgab, andere Parteien akzeptierte und den Austritt des Landes aus dem Warschauer Pakt erklärte, marschierte die Roten Armee am 4. November 1956 abermals in Ungarn ein. Die Kämpfe zwischen den ungleichen Gegnern dauerten allerdings noch einige Wochen, in abgelegenen Gebieten sogar bis Anfang 1957.

Den ungarischen Aufstand im Herbst 1956 erlebte der Autor als 13-Jähriger. Fünfzig Jahre später mischt György Dalos seine präzisen Erinnerungen mit historischen Recherchen und weltanschaulichen Überlegungen, letztere oft auch mit der ihm eigenen leisen, ironischen Melancholie. Es ist vor allem dieser rege Wechsel zwischen Berichten und Kommentaren, zwischen Schilderungen der Geschehnisse und Charakterstudien der Protagonisten des Aufstandes und auch des Regimes. Insbesondere dem zaudernden Ministerpräsidenten Imre Nagy und auch seinem siegreichen Gegenspieler János Kádár versucht er, einfühlsam und mit kritischer Gerechtigkeit zu begegnen.

Heldenverehrung ist Dalos fremd; so wahrt er Distanz zu vorschneller Parteinahme für die Aufständischen und noch mehr vor zu undifferenzierter Verurteilung ihrer Gegner. Zu den sympathischsten Passagen gehören jedoch die persönlichen Erlebnisse des jungen György Dalos, zum Beispiel als er ein halbes Jahr nach dem Aufstand seinen früheren Geschichtelehrer im Internierungslager Tököl besucht.

1956. Der Aufstand in Ungarn wurde von einem Ungarn, der seit mehr als zwanzig Jahren fast ununterbrochen in deutschsprachigen Ländern lebt und früher Leiter des ungarischen Kulturinstituts in Berlin war, für den deutschen Markt geschrieben: Unter den ausländischen Quellen werden gerne die deutschen zitiert, den Erlebnissen der nach Deutschland geflohenen Emigranten wird viel Platz eingeräumt.

Sechzehn Bilder des Magnum-Fotografen Erich Lessing illustrieren den Band. Eine detailreiche Zeittafel und ein Personenregister am Ende erleichtern die rasche Orientierung im Buch.

(Wolfgang Moser; 11/2006)


György Dalos: "1956. Der Aufstand in Ungarn"
C.H. Beck, 2006. 246 Seiten.
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Am 23. Oktober 1956 erhob sich das ungarische Volk gegen die kommunistische Staatsführung, die sich in Ungarn seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges etabliert hatte. Anfangs erfolgreich, wurde der Aufstand im November desselben Jahres von sowjetischen Truppen blutig niedergeschlagen.
Zum 50. Jahrestag der Ungarischen Revolution zeigt dieser Bildband 200 Fotografien des bekanntesten Chronisten der Nachkriegszeit in Osteuropa: Erich Lessing. Er war der erste ausländische Fotograf, der nach Ausbruch der Revolution nach Budapest kam. Im Dezember 1956 kehrte er mit Medikamenten und Konserven zurück und dokumentierte die Zerstörung der Stadt und den Überlebenswillen ihrer Bevölkerung. Diese Bilder, die wesentlich zur Erweiterung der Kriegsberichterstattung beigetragen haben, sind ein erschütterndes Zeitdokument und zeigen Lessing als ebenso einfühlsamen wie scharfen Beobachter. Erich Lessing, seit 1951 Mitglied der Fotografen-Kooperative Magnum, erhielt für diese Reportagen den "American Art Directors Award".
Die ausführlich kommentierten Bilder werden begleitet von Texten des großen ungarischen Romanciers György Konrád, des Journalisten und Politologen François Fejtö sowie des Historikers Nicolas Bauquet. (Christian Brandstätter Verlag)
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Marta S. Halpert: "Gegangen und Geblieben - Ungarn 1956"
In den blutigen Tagen des Volksaufstandes in Ungarn 1956 wurden viele Familienschicksale auf Jahrzehnte hinaus entschieden. Für Tausende Frauen und Männer stellte sich die Frage: Weiterleben in der kommunistischen Diktatur oder alles aufgeben und ins Ungewisse fliehen? Jene, die diese mutigen Entscheidungen fällten - zu bleiben oder zu gehen - griffen in die Lebensläufe von Generationen ein: Die Mutter in der Kleinstadt, die ihre vier Kinder packte und nach Österreich floh, ebenso wie der Vater, der sich an seinen Sohn klammerte und ihn in Budapest festhielt. Wie haben sie diese dramatischen Tage erlebt? Wie fanden sie sich als Entwurzelte im Westen zurecht? Wie sehen ihre Kinder und Enkel heute diese damalige Wahl, die für sie getroffen wurde?
Dieses Buch schildert die Lebensläufe von renommierten Schriftstellern und Politikern, wie György Konrád, György Dalos und Árpád Göncz, aber auch die der Bibliothekarin, des Unfallchirurgen, des Pädagogen und der Psychiaterin, die selten bis gar nicht dazu befragt wurden: Ihre Erlebnisse sind berührend bis erschütternd, ihre Traumata immer noch gegenwärtig. (Molden Verlag)
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