Ljudmila Ulitzkaja: "Reise in den siebenten Himmel"


Eine große bewegende Familiensaga, die die Nachkriegsära unter Stalin und Chruschtschow umfasst und sich in die beste russische Erzähltradition einfügt.

Die ungefähr 500 Seiten des Romans durcheilt man wie im Fluge, d.h. korrigieren wir lieber etwas nach unten und sagen: 450 Seiten, denn ca. 50 Seiten mit zwei in die gewaltige Erzähllandschaft eingefügten Oasen der Stille - umfangreiche, surreale Traumbilder - sind wahrscheinlich nicht jedermanns Sache. Der Leser kann sie jedoch überspringen, ohne dass das Verständnis der Handlung groß Schaden nähme.
Unter dem Aspekt der Architektonik des Romans sind aber diese Einblendungen durchaus keine Fremdkörper. Sie bereiten den Leser auf die beginnende Geisteskrankheit Jelenas vor. Jelena ist die Frau des großen Moskauer Gynäkologen Pawel Kukotzki, die zusammen mit ihrer in die Ehe eingebrachten Tochter Tanja und beider Adoptivtochter Toma im Mittelpunkt der Handlung steht.

Jelena gleitet zusehends von der realen Welt in eine Traumwelt hinüber, in der Ort und Zeit aufgehoben sind. Der große Arzt steht dem Zerfallsprozess Jelenas und seiner Familie ebenso ohnmächtig gegenüber wie dem Niedergang der Medizin in seinem Land. Er muss wie viele andere Wissenschaftler seine hochfliegenden Träume zu Grabe tragen.

In diesem weit ausladenden Roman paaren sich unerschöpfliche Erzähllust mit einem präzisen, den Leser aber nie überfordernden Fachwissen vor allem aus den Gebieten Genetik und Gynäkologie. Gleichzeitig stellt der Roman ein interessantes Stück Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftskritik der Sowjetunion dar.
Er ist auch ein zutiefst humanistisches Werk. Die Autorin widmet allen Personen, ob hübsch oder hässlich, sozial privilegiert oder abgesunken in bitterste Armut, das gleiche menschliche Interesse und Verständnis gemäß der Überzeugung: die Umstände prägen den Menschen stärker als seine Erbanlagen.
Der Roman bietet tiefe Einblicke in russische Charaktere, die eines gemeinsam haben: Querköpfe oder Querdenker sind sie alle. Manche lassen sich lieber für Jahre ins Arbeitslager verfrachten, bevor sie ihre noch so skurrilen Überzeugungen verrieten, und für Überraschungen und Kehrtwenden in der eigenen Biografie, die von ihrer Umgebung nicht erwartet wurden, sind sie immer gut.
Am Ende hat man das Gefühl, Russland und seine Menschen zukünftig besser verstehen zu können.

(Diethelm Kaminski; 03/2003)


Ljudmila Ulitzkaja: "Reise in den siebenten Himmel"
(Originaltitel "Kazus Kukockogo")
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.
btb, 2003. 512 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Das grüne Zelt"

Ljudmila Ulitzkaja erzählt von drei Freunden, die in der Sowjetunion zu Dissidenten werden. Ilja, der Fotograf, vervielfältigt und verbreitet in seiner Freizeit verbotene Literatur. Als sich Jahre später herausstellt, dass er auch für den KGB tätig war, muss er fliehen. Micha ist Jude und schreibt seit seiner Jugend Gedichte. Wegen seiner Nähe zum Samisdat wird er denunziert und kommt ins Lager. Sanja kümmert sich während Michas Haft um dessen Frau und kleine Tochter. Dennoch hält ihn nach Michas Tod nichts mehr in der Sowjetunion.
In ihrem großen Gesellschaftspanorama erzählt Ulitzkaja von Mut und Verrat, irregeleiteten Idealen, menschlicher Größe und Niedertracht - und immer wieder von der Liebe, die das Handeln der Menschen antreibt. (Hanser)
Buch bei amazon.de bestellen