Jürgen Kleindienst (Hrsg.): "Der Traum ist aus"

Jugend im Zusammenbruch 1944-1945 - Geschichten und Berichte von Zeitzeugen


Anthologie aus verschiedensten Individualschicksalen, ohne Selbstmitleid oder Verbitterung erzählt

Auf dem Umschlagbild hält ein - wohl amerikanischer - Soldat mit MG eine Schar von höchstens sechzehnjährigen Jungen in Schach, die mit erhobenen Händen vor ihm stehen. Der Soldat lächelt etwas verkrampft. Den Jugendlichen, Hitlers kläglichem letztem Aufgebot, gelingt das Lächeln noch weniger.

Ihr Traum ist aus.

Der Traum hatte wohl unterschiedliche Facetten und jedenfalls nie etwas mit dem Abgrund zu tun, der sich vor den zumeist ideologisch verblendeten, durch einen Treueschwur an Hitler gebundenen und auf blinden Gehorsam gedrillten jungen Leuten am Kriegsende auftat.

In seinen Vorbemerkungen zitiert der Herausgeber Theodor Heuss, der einige Jahre nach Kriegsende sagte, "erlöst und vernichtet in einem" seien die Deutschen 1945 gewesen. Diese Aussage wird im Buch sehr deutlich spürbar.

"Der Traum ist aus", eine Anthologie von jeweils rund zehn Seiten langen Zeitzeugenberichten, ermöglicht anhand der individuellen Erlebnisse junger Menschen aus allen Teilen des früheren Deutschen Reichs zumindest im Ansatz ein Begreifen dessen, was sie und ihre Angehörigen in diesen für Deutschland chaotischen und traumatischen Tagen, Wochen und Monaten an Leib und Seele durchmachten. Geschichtsbücher und klassischer Geschichtsunterricht vermögen dies nicht; sie vermitteln nackte Zahlen und objektive Fakten, die vergessen lassen, dass sie millionenfache Schicksale repräsentieren.

Oder, mit den Worten des Herausgebers: "Doch das Ausmaß des Leidens und des Sterbens ist durch historische Daten, Orte, Namen oder Zahlen nicht faßbar. Erst die Zeitzeugen-Erinnerungen lassen uns das menschliche Leiden begreifen."

Viele der hier aufgezeichneten Erlebnisse stammen von Volkssturm-Jungen und solchen, die beim RAD (Reichsarbeitsdienst) verpflichtet waren. Oft wurden die Jungen von ihren Vorgesetzten im Stich gelassen, die sich bei der erstbesten Gelegenheit absetzten, sobald sie die Hoffnungslosigkeit der Lage erkannten. Und trotzdem gab es immer wieder Wehrmachtsoffiziere, die sich solcher Gruppen orientierungsloser Jugendlicher annahmen und sie von der Front weg vorläufig in Sicherheit brachten. Überhaupt ist das Buch voller Kontraste: Grenzenloser Solidarität und Hilfsbereitschaft stehen Skrupellosigkeit, Egoismus und Opportunismus gegenüber; einer realistischen Einschätzung der hoffnungslosen Lage begegnet blinder, geradezu verzweifelter Gehorsam, ein selbstmörderischer Optimismus. Und die jungen Leute, die in der Anthologie zu Wort kommen, geraten zwischen die Fronten - nicht nur in militärischer, sondern auch in zwischenmenschlicher Hinsicht.

Alle Berichte wurden weder bitter oder anklagend noch moralisierend geschrieben. Sie orientieren sich sachlich am tatsächlich Vorgefallenen und den Gefühlen, welche die Ereignisse damals hervorriefen. Neben der Furcht um das eigene Leben und das der Angehörigen, Verzweiflung und Orientierungslosigkeit herrscht der unbändige Lebenswille junger Menschen vor, der immer wieder zu überraschenden, mutigen Lösungen führt. Die Schauplätze und Protagonisten sind unterschiedlich; die Geschichten ähneln einander insofern, als viele Menschen in Extremsituationen über sich selbst hinauswachsen, vom Überlebenskampf für sich und andere getrieben.

Abenteuerliche Fluchten desertierter oder versprengter Volkssturm- und RAD-Jungen an den vorrückenden Russen vorbei wechseln sich mit Berichten ab, wie Eltern und Jungen die Einberufung zu umgehen versuchten. Junge Mädchen, die ihren Arbeitsdienst in ihnen fremden Teilen Deutschlands ableisten, schlagen sich, oft unter Lebensgefahr, in überfüllten Flüchtlingszügen nach Hause durch, ohne zu wissen, ob ihr Zuhause überhaupt noch steht, und in wessen Hand es ist. Und immer wieder fallen Brüder, halbe Kinder noch, Väter und Freunde junger Leute in diesen letzten Tagen vor der Kapitulation, als der ohnehin längst verlorene Krieg selbstmörderisch weitergeführt wird.

Interessant und tragisch sind auch die Berichte von Daheimgebliebenen, die zum Beispiel den sinnlosen Kampf um die "Festungen" Königsberg und Breslau miterleben, oder des jungen Mädchens, das mithilft, im völlig zerstörten Nürnberg so etwas wie eine Infrastruktur aufzubauen. Nicht in allen Erzählungen wird die schaurige, allgegenwärtige Kulisse von Trümmern, Blut und Toten angeleuchtet, doch selbst eher schlichte Schilderungen des "Alltags" am Kriegsende erschüttern den Leser, der erkennt, wie das scheinbar Unerträgliche zum Gewohnten werden kann und, vielleicht sogar mit einem Schuss Humor, hingenommen wird, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt.

Nicht nur die Qualität der Beiträge, sondern auch die Aufmachung des Buchs sorgen dafür, dass man es kaum aus der Hand legen mag - dies gilt übrigens für die gesamte Zeitgut-Reihe, in der seit 1998 zwanzig Anthologien mit Zeitzeugenerinnerungen erschienen sind. Individuelle persönliche Hintergründe, Schreib- und Erzählstile, ganz unterschiedliche Persönlichkeiten und Schicksale prägen das Buch und verleihen jedem Beitrag seinen einzigartigen Charakter. Viel persönliches Foto- und Bildmaterial illustriert die Berichte.

Hervorheben möchte ich die an den Anfang des Buchs gestellte knappe, aber sehr informative und hilfreiche Chronologie der geschichtlichen Ereignisse ab 1943, die das Kriegsende bereits ankündigten, und in deren Rahmen sich die Erlebnisse der Zeitzeugen abspielen. Auch ein Ortsverzeichnis ist vorhanden. Am Ende des Buchs werden die einzelnen Autoren kurz vorgestellt. Der Verlag bedient sich übrigens der "alten" Rechtschreibung.

Ein bisschen Mut gehört schon dazu, dieses Buch zu lesen und sich von den Schicksalen seiner Autoren berühren zu lassen. Denn gerade für die Generation, die nach 1950 geboren wurde, ist es ungewohnt, sich mit der Zeitgeschichte aus diesem Blickwinkel zu befassen, statt sich hinter den sterilen Daten aus dem geschichtlichen Schulunterricht zu verstecken. Gut, dass die Autorinnen und Autoren bereit sind, sich so weit zu öffnen und ihre oft traumatischen Erlebnisse mit den Jüngeren zu teilen. Nur auf diese Weise wird uns bewusst, wie leicht gerade junge Menschen zu manipulieren sind, und wie es zur Durchsetzung menschenverachtender Ideologien wie dem Nationalsozialismus und zu erbitterten Kriegen kommen kann. Und wie kostbar und schützenswert Frieden und Demokratie sind.

(Regina Károlyi; 06/2005)


Jürgen Kleindienst (Hrsg.): "Der Traum ist aus"
Zeitgut, 2005. 352 Seiten.
ISBN 3-933336-31-7.
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