Olga Tokarczuk: "Der Schrank"

Erzählungen


Olga Tokarczuk wurde 1962 in Sulechów geboren. Sie studierte Psychologie in Warschau. Im vorliegenden Band sind sieben Erzählungen versammelt: "Der Schrank"; "Deus ex"; "Zimmernummern"; "Sauermehlsuppe"; "Amos"; "Peter Dieter"; "Ergo Sum".

In der Titelgeschichte findet ein junges Paar Zuflucht und Erfüllung im Inneren eines alten Schranks. Einkapselung einmal anders? Glücklicherweise ja. Der Schrank als Fels in der Brandung, als zeit- und weltloser Ort, als Gegenpol zur trostlosen, eintönigen Realität. Die Personen bleiben namenlos, und lediglich das Möbelstück wird im Detail beschrieben.

Die zweite Geschichte namens "Deus ex" zeigt Herrn D., dessen Tagwerk darin besteht, wieder und wieder sein Computerspiel namens "SemiLife" beginnen zu lassen, in dessen Verlauf gottgleich Welten und Zivilisationen zu begründen, Menschen zu erschaffen und auszulöschen, während sich seine Frau im Nebenzimmer endlosen Meditationen hingibt, Bauchatmung übt und ab und zu eine leichte Mahlzeit zubereitet. Doch auch das verbesserte Spielprogramm "SemiUniverse" endet im totalen Chaos, und es kommt, was kommen muss, wenn ein Mensch Gott spielt. Der Computer als Stimme des Bösen fragt: "Bist du sicher, dass du das Licht nicht vom Dunkel scheiden willst? JA / NEIN." "JA und NEIN", antwortete D. Dann sahen sie eine große Explosion. Sie wurden Zeuge, wie sich aus der ursprünglichen Ganzheit die vier großen Kräfte lösten. Sie sahen, wie die Zeit entstand, die in ihrem Keim aussah wie ein Tropfen Gift. Sie hatten Mitleid mit dem Raum, der von der Explosion zerrissen wurde, und aus dem Zorn des Raums entstand die Materie und formte sich zugleich zu Feuerkugeln, die von Zorn erfüllt waren. Und D. sah, dass nichts gut war ...

In "Zimmernummern" begleitet man ein rosa-weiß beschürztes Stubenmädchen bei der Arbeit in den Zimmern des zweiten Stockwerks des "Hotels Capital". Wieder stehen nicht Menschen sondern Räumlichkeiten und Gegenstände, deren Ausstrahlung und ihr bis in kleinste Detail beschriebenes Aussehen im Mittelpunkt. Die abwesenden Hotelgäste werden nach dem Grad der von ihnen verursachten Unordnung und anhand ihrer Habseligkeiten trefflich charakterisiert.
"Sauermehlsuppe" ist die Geschichte einer jungen, geistig behinderten Frau, die sich in bitterer Winterkälte mit ihrem unehelichen Kind und ihrer Mutter auf die Suche nach dem - unbekannten - Kindesvater macht. Diese Erzählung nimmt ein glückliches, abermals überraschendes, Ende.
In "Amos" begleitet wir Krystyna von der Genossenschaftsbank in Nowa Ruda bei der Verfolgung eines Traumgebildes: Des Nachts, im Schlaf, vernimmt sie wiederholt romantische Liebesschwüre eines gewissen Amos. So verspürt sie das zwingende Bedürfnis, die Zeichen ihrer Träume zu deuten und diesen Mann ausfindig zu machen. Dass Traum und Wirklichkeit nicht zwangsläufig harmonisch aufeinanderfolgen, muss Krystyna im wahrsten Sinn des Wortes am eigenen Leib erfahren, denn der aufgespürte Andrzej Mos - (der mit Traumverbindungen absolut nichts im Sinn hat) - nutzt schamlos die Gunst der Stunde ...
"Peter Dieter" bereist mit seiner Frau die Stätten seiner Kindheit an der tschechisch-polnischen Grenze, und bald wird klar, dass er zum Sterben zurückgekommen ist. Er lässt sein Leben "mit einem Bein in Tschechien, mit dem anderen in Polen". Was die Grenzwächter beider Staaten mit seinem Leichnam anstellen, zeichnet einerseits ein tragikomisches Bild vom Leben und stimmt gleichzeitig nachdenklich.
"Ergo Sum hatte Menschenfleisch gegessen" lautet der Einleitungssatz der letzten Erzählung. Ergo Sum ist Junggeselle und lebt als Geschichtsprofessor in Nowa Ruda. Als er nach Jahren des Verdrängens der Ereignisse des Jahres 1943 bei der Lektüre Platons auf den Satz "Wer von menschlichen Innereien gekostet hat, wird unweigerlich zum Wolf" stößt, ist sein Schicksal besiegelt. ("Der Satz existierte, und Platon hatte ihn geschrieben. Deshalb war es die Wahrheit.") Selbstverständlich tischt uns die Autorin in weiterer Folge keinen aufgewärmten Werwolf-Eintopf auf!

Olga Tokarczuks Prosawerke beeindrucken durch die Vielzahl glaubwürdiger Erzählperspektiven, aus denen die Autorin mit traumwandlerischer Sicherheit und gesteigerter Sensibilität für innere Abgründe auf die Realität und das, was sich dahinter befinden mag, blickt. Niemals platt, marktschreierisch oder gar mit erhobenem Zeigefinger erzählt sie hochkonzentrierte Geschichten, die überraschende Wendungen nehmen, menschliche Schwächen aufdecken sowie Einzelschicksale aus der Masse treten lassen und beschränkt die Einsichten und Beobachtungen auf relativ abgeschlossene Momentaufnahmen, die in der Fantasie des Lesers keimen. Auf diese Weise begleitet man die Figuren ein Stück des Weges durch das Daseinschaos und sieht ihnen dabei zu, wie sie versuchen, sich in ihren Lebensnischen einzurichten und dies gelegentlich zuwege bringen.

Ein wirklich empfehlenswertes Buch einer bemerkenswerten Autorin!

(kre; 11/2001)


Olga Tokarczuk: "Der Schrank"
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
dtv, 2001.
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