Otto Kallscheuer: "Die Wissenschaft vom lieben Gott"

Eine Theologie für Recht- und Andersgläubige, Agnostiker und Atheisten


Der Autor lief an, sprang und ...

Otto Kallscheuer lehrt und forscht als Politikwissenschaftler und Philosoph an der Freien Universität Berlin und am Institute for Advanced Study der Universität Princeton. Glaube und Religion beschäftigten ihn auch schon in früheren Publikationen.

Der Autor führt gleich zu Anfang eine forsche Klinge, denn bereits auf dem Schuber ist zu lesen: "Wer die Theologie den Fernsehpredigern, den Drewermännern und dem Dalai Lama überlassen will, sei gewarnt. Dieses Buch ist dazu angetan, mit dem Dünndenken aufzuräumen." Das ist eine deutliche Einladung an die Leser, auch den Autor beim Wort zu nehmen. Auf dem Schuber steht weiter: "Es ist schon sonderbar, dass eine alte Leitwissenschaft, auf die sich die besten Köpfe Europas jahrhundertlang konzentriert haben, derart in Vergessenheit geraten ist. Ein Publikum, das sich aufgeklärt dünkt, scheint sich von einem der größten intellektuellen Abenteuer der europäischen Geschichte definitiv verabschiedet zu haben."

Und findet sich schon ein elementarer Wesenszug dieses Buches, nämlich en passant geschickt Behauptungen einzuflechten, die bei genauerem Hinsehen nicht haltbar sind. Der Autor meint nämlich den christlichen Glauben, wenn er von der Leitwissenschaft spricht. Doch wer möchte ernsthaft Glauben mit Wissenschaft gleichsetzen, wo doch der Glaube eines Glaubenden weder ergebnisoffen ist, noch wissenschaftliche Methodiken oder Kriterien in Reichweite des sakralen Kosmos Anwendung finden können? Im Übrigen ist es keineswegs sonderbar, dass, wie der Autor behauptet, das Christentum des Mittelalters einen großen Teil seiner Bedeutung eingebüßt hat, sondern in den Standardwerken der Religionssoziologie nachzulesen.

Die Aussagen des Buches werden nachfolgend exemplarisch anhand von zwei Beispielkapiteln vorgestellt und bewertet.

Glaube, Kirche und Wissenschaft:
Ein Abschnitt des Kapitels 1 "Gott glauben - An Gott glauben" ist mit dem Ausspruch des Anselm von Canterbury (1033-1109) überschrieben: "Fides quaerens intellectum (und umgekehrt)". Das Lateinische bedeutet "Der Glaube, der nach Einsicht verlangt" und beschreibt das scholastische Programm des Anselm, der versuchte, seinem Glauben einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben. Das Motto selbst ist im Prinzip richtig, die vom Autor ergänzte Umkehrung jedoch a priori nicht, es sei denn man stützt einen Syllogismus auf einen Glaubenssatz, womit man mitten im Münchhausentrilemma steht (siehe Hans Albert: "Traktat über kritische Vernunft"). Der ontologische Gottesbeweis des Anselm funktioniert folgendermaßen: "Gott ist das Größte, das gedacht werden kann. Wenn aber Gott nur im menschlichen Geiste existierte, so könnte er nicht das Größte sein, das existiert, denn ein auch in der Realität existierender Gott wäre größer. Somit muss Gott außerhalb des menschlichen Geistes existieren." Damit lässt sich natürlich alles und nichts beweisen, einzig das Universum hält diesem so genannten Beweis eine Zeitlang stand. Doch gerade der Mensch, der das Motto Anselms ernst nahm und weiter spann, wurde im Februar 1600 auf dem Campo die Fioro in Rom verbrannt. Sein Name war Girodano Bruno, und er zählt wirklich zu den besten Köpfen Europas, aber den wird der Autor wohl nicht gemeint haben, als er von den besten Köpfen Europas sprach.

Der Autor schreibt weiter: "Anselms spezielle 'Lösung' soll uns hier gar nicht eigens interessieren, denn die Verbindung von Einsicht und Gebet finden wir nicht erst im christlichen Mittelalter. Für den Dogmenhistoriker Adolf von Harnack unterschied sich die christliche Kirche bereits in den ersten Jahrhunderten von allen anderen konkurrierenden Religionen des römischen Reiches gerade darin, dass nur in der Kirche eine Gottesrede (eine Theo-Logie) die Oberhand gewann, 'welche sich auf die Offenbarung und auf die Vernunft (die Wissenschaft) zugleich stützt und die deshalb als supranaturalen Rationalismus bezeichnen müsste'."

Die Kirche als Motor der Wissenschaften? Da bleibt einem die Spucke weg. Als Giordano Bruno auf seinem Recht bestand, die Wissenschaft voran zu treiben, wurde ihm da nicht von dem Kirchenlehrer Roberto Bellarmin beschieden, durch die Schriften des Augustinus, des Thomas und des Anselm sei alles Wissen bekannt und eine Wissenschaft nicht mehr erforderlich? Und wäre Galileo nicht auch auf dem Scheiterhaufen gelandet, wenn er nicht seine wissenschaftlichen Erkenntnisse widerrufen hätte?

Im nächsten Absatz versucht uns der Autor weiszumachen, die Kirche als Trägerin des theologischen Wissens habe stets egalitäre (nicht elitäre) Bestrebungen gehabt und den Unterschied zu den Gläubigen auszugleichen versucht. Das steht aber in den Geschichtsbüchern ganz anders. Erst Luther mit seiner Bibelübersetzung knackte die Jahrhunderte alte Monopolstellung der Schriftgelehrten und demokratisierte das Christentum; doch Luther ist schon wieder eine andere Geschichte. Thomas Luckmann führt in "Der unsichtbare Glaube" an, dass die Herausbildung einer religiösen Repräsentation gerade auf dem unvollständigen und ungleich verfügbaren Wissen der Gläubigen basiert.

Der Autor schreibt weiter: "Aber mit der kirchlichen Rationalisierung der Offenbarung entsteht zugleich eine neue Wissenschaft von den Dogmen, die mehr und mehr an die Stelle der Verkündigung treten und den Anspruch erheben, nicht nur geglaubt werden zu müssen, sondern auch wissenschaftlich einleuchtend zu sein". Von welchen Dogmen ist die Rede: Von der unbefleckten Empfängnis, die aus der morbiden Körper- und Menschenfeindlichkeit des Mittelalters stammt? Oder der Transsubstantiation, die aus einem Gebäck und einem Schluck Wein das Fleisch und Blut eines was auch immer macht (gehört nicht hierher)? Die Unfehlbarkeit des Papstes vielleicht? Oder das menschenverachtende Sola Gratia im Widerspruch zu einem gütigen Gott? Natürlich kann die christliche Religion wissenschaftlich (!) erforscht werden, aber nur in Form der Anthropologie, der Soziologie, der Psychologie oder der Kulturwissenschaften, eine jede einzelne Theologie jedoch hat lediglich aus historischen Gründen formaliter noch Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, realiter hat sie ihn längst verloren.

Von den Ungläubigen:
Nun soll eine Stelle untersucht werden, bei der sich bei dem Rezensenten allen Ernstes der Verdacht einstellte, dieses doch so inbrünstige Buch sei eine einzige Satire auf das Christentum. Es geht einmal wieder oberflächlich um die Ungläubigen (Seite 65ff). Gläubige kennzeichnet das deutliche Ja! zu den Glaubensgrundsätzen der Kirche. Nun schreibt der Autor in einen Dialog überleitend: "Gibt es auch einen gemeinsamen Nenner Aller Anfechtungen des Glaubens? Nun, wenigstens diesen: der klassische Unglaube spricht. Auch er streitet und bestreitet. In all seinen Stimmen formuliert er ein ausdrückliches Nein! zu dieser oder jener Glaubenswahrheit - oder zur rechten Auslegung eines der Glaubensartikel: Das ist der Unglaube der Häretiker. - Und dieses Nein! ist immer offen und ausdrücklich? - Mehr oder minder. Aber wer Ohren hat zu hören, der hört dieses Nein! zum rechten Verständnis der Glaubensartikel. - Und wer bestimmt ihre rechte Auslegung? - Das ist eine andere Frage. Zuweilen muss die Kirche hier Spezialisten zur Untersuchung (lateinisch inquisitio) einsetzen: das Sacrum Offizium, das heilige Amt." Abgesehen davon, dass es Sanctum Officium heißt (eigentlich sogar Sacra Congregatio Sancti Officii) schwingt hier für einen aufrechten Humanisten ein unglaublicher Zynismus, denn diese Spezialisten - er hätte sie anders nennen können - zusammen mit dem unscheinbaren Wörtchen inquisitio haben Millionen von Knochen gebrochen. Man schaue sich die Technik des Aufs-Rad-Flechtens in mittelalterlichen Stichen an. Aber nicht mit einem Wort geht der Autor darauf ein.

Es geht jedoch weiter: "Dann gibt es, grundsätzlicher schon, das Nein! zur Gottheit des Messias (oder Christus) Jesus von Nazareth: also die Leugnung der Menschwerdung Gottes, womit diese Ungläubigen sich dann auch alle mit diesem Dogma der Inkarnation verknüpften theologischen Folgeprobleme ersparen (Was auch immer das heißen mag. Anmerkung des Rezensenten). Dieses Nein! finden wir unter den anderen 'Völkern der Schrift': Das ist der Unglaube etwa von Juden und Muslimen; aber zum Beispiel auch der Mormonen und anderer Monotheisten, die die Botschaft von der Menschwerdung Gottes nicht als göttliche Offenbarung akzeptieren."

Dieses Buch ist für einen aufrechten Humanisten ein Affront, eine Beleidigung der durch Renaissance und Aufklärung mühsam und blutig errungenen Werte heutiger Prägung. Diese Ausschließlichkeit, diese unglaublich arrogante Monopolisierung der religiösen Auslegung mit der Folge des aktiven Ausgrenzens aller Andersdenkenden ist es, was heute die Welt noch in Atem hält. Und im Übrigen zeigt es, dass der Autor von den religiösen Mechanismen, die von Soziologen vorhergesagt und von Anthropologen inzwischen bestätigt wurden (siehe beispielsweise Pascal Boyer), nichts verstanden hat. Religiosität und Spiritualität sind als elementares menschliches Bedürfnis transkulturell längst nachgewiesen. Und es ist an der Zeit, dass sich die Religionen mit diesen wissenschaftlich gesicherten Tatsachen auseinandersetzen und sich im anthropologischen Kontext begreifen und nicht von dem größten intellektuellen Abenteuer der europäischen Geschichte reden, ohne auch nur mit einem Wort auf den unglaublichen Blutzoll dieses "Abenteuers" einzugehen. Denn diese Botschaften von den Ungläubigen sind es, die früher die Scheiterhaufen lodern ließen und heute in Innenstädten die Bomben hochgehen lassen.
Das war dann die Stelle, an welcher der Rezensent das Experiment des Lesens dieses Buches zornig abbrach.

Dieses Buch kann nicht, wie angekündigt, als kritische Auseinandersetzung - wieder ein notwendiges Attribut echter Wissenschaftlichkeit - gedacht gewesen sein, denn es fehlen durchaus namhafte Kirchenkritiker, La Mettrie zum Beispiel, Feuerbach oder Stirner. Küng ist da, aber der Anti-Küng fehlt: Hans Albert. Auch Norbert Hoerster wird nicht erwähnt. Und was am schwersten wiegt, ist das Fehlen Franz Buggles, Emeritus der Albert-Ludwig-Universität Freiburg, dessen "Denn sie wissen nicht, was sie glauben" wohl die fundamentalste Kritik der neueren Zeit darstellt. Luckmann und Luhmann tauchen im Anhang auf, aber deren diametrale Positionen werden nicht eines Wortes gewürdigt. Dadurch wird der Eindruck erweckt, als seien diese Bücher Grundlage der Kallscheuerschen Schrift.

Das Buch ist von einer typografischen Aufdringlichkeit, die nach kurzer Zeit zu nerven beginnt. Es ist ständig die Rede von IHM, von SEINER Größe und unendlichen Güte. ER ist auch der Gott der Vernunft, da er die Vernunft ja erschaffen habe. So ist es also kein Wunder, dass Drewermann für ihn ein Dünndenker ist, denn dieser erscheint geradezu pantheistisch im Vergleich zu ihm. Auch Pierre Teilhard de Chardin wird zerrupft, dieser Theologe, Anthropologen und Philosoph, dem man wegen seines Versuches der Verknüpfung von Wissenschaft und Glauben die Lehrerlaubnis entzogen hatte.

Abschließend sei eine Aussage präsentiert, die eine deutliche Sicht auf die Vorstellung präsentiert, die der Autor von einem Atheisten hegt, denn dialogisch fragt er einen Atheisten: "Welcher ist der Gott, an den du nicht glaubst? Welcher Gott ist tot?"

(Klaus Prinz; 03/2006)


Otto Kallscheuer: "Die Wissenschaft vom lieben Gott"
Eichborn - Andere Bibliothek (Band Nr. 249), 2006. 488 Seiten.
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Otto Kallscheuer wurde 1950 im Rheinland geboren; er lebt auf Sardinien und in Berlin.