Daniel Ehrmann (Hrsg.): "Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch"

Eine Sammlung von Sagen, Legenden, Allegorien und Fabeln


"Warum ist der Mensch als einzelnes Individuum und nicht wie die Tiere gruppenweise und nach Gattungen geschaffen worden? - Daraus folgt die Lehre: Wer ein einziges Menschenleben zerstört, hat gleichsam die ganze Welt zerstört, und wer einen einzelnen Menschen rettet, hat gleichsam die ganze Welt gerettet."
(Aus: Gleichnisse und geistvolle Bibelauslegungen)

Zu Anfang des sechsten Jahrhunderts wurde nach langer, wie es heißt, 60-jähriger Arbeit von einigen großen Lehrern der babylonische Talmud redigiert. Die Arbeit wurde vorzugsweise wie die Mischna im Dienste der Halacha unternommen; doch wurde aus Pietät der größte Teil des agadischen Stoffes mit aufgenommen; der später durch den Midrasch - Vortrag, Erläuterung -, der fast ausschließlich agadisches Material sammelte und nach den Abschnitten der Thora oder nach den Kapiteln der anderen biblischen Bücher ordnete, ergänzt wurde. Der jerusalemitische Talmud - im dritten Jahrhundert redigiert - hat in geringerer Ausdehnung und bei weniger Dialektik dieselbe Grundlage wie der babylonische; für die Agada liefert er keine sehr große Ausbeute.

Die Agada kennt keine geordnete Aufeinanderfolge bzw. Einteilung, überhaupt Ordnung. Bei ihr ist die Regellosigkeit wie die Unordnung - das Gesetz und die Regel.

Es gibt keinen schöneren Zeitvertreib für den agadischen Geist als die vielfache und vielseitige Deutung des Bibelwortes. Insgesamt 107 Gleichnisse und geistvolle Bibelauslegungen sprechen im vorliegenden Buch für die Eigenheiten, welche in der Agada das Geistesleben des jüdischen Volkes durch einen Zeitraum von mehr als acht Jahrhunderten reflektieren. Es sind zweifellos bemerkenswerte Miniaturen, deren Eigenheiten darin gründen, immer wieder Überraschungen zu bieten. Das liegt an der oft durchscheinenden Widersprüchlichkeit, die ebenso in den Dichtungen und Sprüchen offensichtlich ist. Hierbei muss bedacht sein, dass die Agada ein Produkt mehrerer Länder, mehrerer Jahrhunderte und unzähliger Mitarbeiter ist. Die schroffe, manchmal exzentrische Form ist Ausdruck der weitläufigen Interpretationsdynamik, auf die sich der Leser einzulassen hat.

Nach der Lektüre von Sagen, Legenden, Allegorien, Fabeln, moralischen und sinnreichen Erzählungen, Gleichnissen und geistvollen Bibelauslegungen sowie Dichtungen und Sprüchen ist ein kleiner Einblick in die Studierstube eines Talmud-Schülers erlaubt, der sich im Laufe von vielen Jahren exorbitantes Wissen aneignen mag.

Ansonsten ist es wie bei allen religiösen Texten: Nur behutsames, bedächtiges Lesen der einzelnen Segmente kann tief in den Brunnen hineinführen, wo erstaunliche Erkenntnisse darauf warten, an die Oberfläche gebracht zu werden. Ein "Überlesen" der Texte ist nicht zielführend.

Das Buch sei all jenen Menschen anempfohlen, die Interesse für jüdische Kultur mitbringen und sich auf eine hochspannende Reise in das Zentrum jüdischen Geistes- und Gemütslebens begeben wollen.

(Al Truis-Mus; 08/2004)


Daniel Ehrmann (Hrsg.): "Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch"
Marixverlag, 2004. ca. 256 Seiten.
ISBN 3-937715-57-6.
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Hier eine talmudgespeiste Geschichtensammlung aus dem Jahre 1602