Antal Szerb: "In der Bibliothek"


Ein Band mit Erzählungen des ungarischen Romanciers

Die in diesem Band gesammelten Erzählungen des großen ungarischen Literaturwissenschaftlers und Romanciers Antal Szerb kreisen im Großen und Ganzen immer wieder um zwei Themen, die wesentlich sind für Szerbs belletristisches Werk: erstens, die Liebe, zumeist nur scheinbar vorhanden und niemals erfüllt; zweitens, den Aufeinanderprall der realen, fassbaren Welt und des Übersinnlichen, Metaphysischen, das manchmal gleichberechtigt und parallel zu unserer aufgeklärten Welt zu existieren scheint, in anderen Fällen wiederum völlig überraschend über die Protagonisten hereinbricht.

Im ersten Teil des Bandes dominieren Erzählungen mit autobiografischem Anklang, Geschichten um Liebesbeziehungen, aber auch über das Schreiben.
Da ist beispielsweise "Cynthia", eine Studie über die englische Frau; eine "Garden Party", die dem Ich-Erzähler zeigt, dass die Frauen (und Männer) im Grunde beliebig austauschbar sind, selbst die vermeintlich große Liebe; "Fin de Siècle" parodiert spitzfindig und doch melancholisch die Literaturszene um Oscar Wilde; der Hund Madelon beweist dem aus der "Pendragon-Legende" bekannten Dr. Bátky, dass sich hinter dem allzu aufdringlich Offensichtlichen bisweilen die nackte Wahrheit verbirgt; und in der Bibliothek erfährt der Ich-Erzähler, wie erschreckend die Aussicht auf Erfüllung der Liebe sein kann, wenn sie vonseiten der Begehrten von zu hohen Ansprüchen begleitet ist.

Der zweite Teil beinhaltet Erzählungen, die sich mit historischen Vorlagen oder Legenden befassen. In ihnen dominieren zumeist fantastische Elemente, zudem arbeitet der Verfasser sorgfältig psychologische Momente heraus.
Der Beginn der Gralslegende, nämlich die Berufung von Parzival, findet hier ebenso Eingang wie die Biografie des Mailänder Herzogs und Tyrannen Galeazzo, der den Antichrist verkörpert. Die eisig wirkenden, steinernen und schmucklosen Mauern und Häuser des überlebten, verlöschenden Byzanz töten mit ihrer Ausstrahlung von Kälte die nach Wärme und Liebe dürstenden Kinder der Stadt und schließlich sogar Zoe, die herzensgute Prinzessin. Und das Mädchen Ajándok, das sich in einen schwarzen Magier verliebt, scheint geradewegs einer düsteren ungarischen Sage entsprungen zu sein.

Das gewissermaßen selbstverständlich Rätselhafte, die Unergründlichkeit des Alltäglichen finden sich immer wieder in Antal Szerbs Erzählungen. Er untersucht die Liebe und die Hingabe in all ihren Facetten und gelangt doch stets, fast schon erwartungsgemäß und zwanghaft, zu dem Schluss, dass ihre Erfüllung unmöglich sei oder doch einen tiefen, geradezu tödlichen Schmerz mit sich bringe. Da erstaunt es durchaus, dass der Autor mit dem scharfen, analytisch geschulten, gelegentlich zynischen Blick auf das Innerste der menschlichen Psyche fantastisch-irreale Elemente mit einer Selbstverständlichkeit einflicht, als seien sie ein nicht zu hinterfragender Bestandteil unseres Lebens und Liebens - und bei eingehender Betrachtung mag man sich ihm vielleicht sogar anschließen.

Feine Metaphern, Wortwitz und deutliche wie indirekte Anspielungen auf Literatur und Geschichte würzen die Erzählungen aus "In der Bibliothek"; die sehr gut gelungene Übersetzung aus dem Ungarischen sollte in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Szerbs Werke vereinen in sich niveauvolle, mitreißende Unterhaltung und eine nicht immer auf den ersten Blick erkennbare psychologische Vielschichtigkeit, die auch den heutigen Leser in ihren Bann zu ziehen vermag.

(Regina Károlyi; 01/2007)


Antal Szerb: "In der Bibliothek"
Übersetzt von Timea Tankó.
dtv premium, 2006. 276 Seiten.
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Leseprobe:

Nachdem man mich wegen meiner als unsittlich empfundenen Art, Krawatten zu tragen, und wegen unmoralischer Umtriebe in Cambridge hinausgeworfen hatte, immatrikulierte ich mich am University College London, zu dessen Besonderheit es zählt, dass der Dekan das Recht hat, Priester, denen es einfallen sollte, das Universitätsgelände zu betreten, von eben diesem zu verweisen. Es wird jedoch geheimgehalten, dass es dieses Recht gibt.

Eines Tages zog ich probeweise den traditionellen und aus Kinofilmen wohlbekannten Talar der anglikanischen Geistlichen an und setzte mich demonstrativ in den Säulengang der Universität, wo sich junge Engländerinnen und junge Perser in der spärlichen englischen Sonne bräunten, als sei dies ihr Lieblingssport. Andächtig schloss ich die Augen, und ein süßer Schauder durchfuhr mich, während ich auf den Festzug des Dekans, der würdigen Alten und der Cellerarii der Universität wartete, denn ich habe eine Schwäche für jede Art von Umzug. Sie kamen jedoch nicht, die Teestunde rückte näher, und ich musste einsehen, dass ich wieder einmal naiv gewesen war. Also versuchte ich mich in der Rolle des Straßenpredigers. Ich breitete die Arme aus, nannte die Anwesenden meine Brüder und Schwestern, so, wie es sich gehört, und begann über gewisse Visionen zu sprechen, die mir angeblich im Schnellzug von London nach Liverpool gekommen seien, in denen ich die Einrichtung des Himmels klar vor Augen gehabt hätte und aufgrund deren ich wüsste, dass das große Tier aus der Apokalypse eigentlich Schottland sei. Die jungen Engländerinnen hörten mir mit andächtiger Langeweile zu, und es gelang mir nicht, auch nur das geringste Aufsehen zu erregen. Sie sind nicht einmal weggegangen. Äußerst gedemütigt machte ich mich auf den Weg, um meinen Tee zu trinken. Ich spürte, dass meine Wesensart an der englischen Wohlerzogenheit abprallte und mein Dasein hier eigentlich gar kein teleologisches war. Ich bildete noch nicht einmal einen Kontrast. Und so legte sich die Last des Bewusstseins auf meine Winzigkeit, und die Größe der Welt drückte auf meine Schultern. Mit Tränen in den Augen schlenderte ich durch den Hyde-Park, und mit einer traurigen Handbewegung schenkte ich meiner Freundin Cynthia die Spiegelungen auf der Wasseroberfläche, die sie so sehr mochte. Ich hätte ihr auch die ganze Welt schenken können, ihr oder einer anderen, deren Hand ich mit nordischer Sentimentalität gestreichelt hätte, ich hätte nichts für mich zurückbehalten, höchstens die Hellebardiere, in meinem maßlosen Snobismus.

Am nächsten Tag war ich dennoch wieder als erster in der Bibliothek des British Museum. Seitdem mich das Testament meines Onkels, das aus einem Roman von 
Jules Verne hätte stammen können, zu wissenschaftlichem Arbeiten verurteilt hat, ist es gewissermaßen zu meiner zweiten Natur geworden, Bibliotheken zu besuchen. Wobei es meiner wahren Natur vielleicht entsprochen hätte, durch wilde Steppen zu galoppieren oder Lokomotiven zu führen. Ich weiß es nicht. Es ist mir nie gelungen, der Pubertät zu entwachsen, während der man mit dem Anlegen verschiedener Identitäten experimentiert. Manchmal staune ich selbst, wenn ich mir die Dimensionen meiner Seelengarderobe anschaue.

Ich saß an meinem gewohnten Platz, vor mir die himmlischen Staubgeruch verströmenden üblichen Bücher, die sich schämten, seit Jahrhunderten von niemandem mehr angefasst worden zu sein. Von manchen wusste ich genau, dass sie als letzter, um 1830, der Poeta laureatus Southey in der Hand gehabt hatte, und dieser Gedanke rührte mich zutiefst. Dann erschien der junge Mann, der jeden Tag neben mir saß. Ich mochte diesen kleinen Mann, der für mich ebenso zur Atmosphäre, die das British Museum ausstrahlte, gehörte wie die große Kuppel über uns, die endlosen Schrankreihen mit den Unmengen von Büchern und die Stille, die tiefer und intensiver war als die in der Kirche. Nur das beständige Rascheln der Blätter war zu hören. Ich ging in mich und begann zu lesen.

Später fand ich mich bei den Katalogen wieder, merkte, dass ich in ihnen stöberte und mich dabei fragte, ob ich sie Cynthia schenken würde oder lieber Eileen; ich würde nur das T für mich behalten, denn das mochte ich so gern. Da entdeckte ich, dass der junge Mann, den ich vom Sehen kannte, neben mir stand und mich ansprechen wollte. Diese Absicht hatte auch ich schon seit längerem gehabt, wäre er eine Frau gewesen, hätte ich es längst getan, aber so hatte ich mich nicht in der Lage gesehen, meine männliche Scheu zu überwinden. Nun jedoch wusste ich, dass der große, große Moment gekommen war, in dem aus undefinierbaren Präexistenzen eine neue Freundschaft entsteht.

"Well", sagte ich, begleitet von einem zuvorkommenden Lächeln.

"Sorry", sagte er, stotterte dann ein wenig herum, wobei er vor lauter Verlegenheit einige Verben falsch konjugierte, er war jedoch sehr höflich.

"Sie benutzen seit zwei Wochen Henry Thomas' Buch über die Amadisromane, welches auch ich dringend benötige. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir das Buch für einige Tage zu überlassen?"

"Nicht im geringsten. Aber ... Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie sich auch mit Amadis beschäftigen?"

"Doch", antwortete er mit jenem warmherzigen, vertraulichen, aus dem tiefsten Inneren kommenden, kurzsichtigen Lächeln, das nur Philologen zustande bringen, wenn sie bei ihrem Thema sind. Auch mein Herz durchzog ein angenehmes Kribbeln. Ich wusste, dass der Himmel mir den Mann geschickt hatte, den ich brauchte. Nicht wegen Amadis - was bedeutete Amadis mir und was bedeutete ich ihm? -, ich sah den Menschen in ihm, dem 1930 der Name Amadis noch etwas sagte, einen Menschen, an dem die Jahrhunderte des Rationalismus spurlos vorübergegangen waren, einen Menschen, der noch Gefühle für den graziösen, unvermittelten und heroischen Unsinn hegte, der einst Europa ausmachte.

Währenddessen war es Zeit geworden, Tee zu trinken, wie immer, und wir verließen die Bibliothek; in der Glückseligkeit über unser Zusammentreffen beachteten wir die alte Dame, die im Museumsgarten jeden Morgen mit einem seltsamen, erotischen Gesichtsausdruck die Tauben fütterte, nicht, wir gingen auf direktem Weg in das Café in der Bury Street, und als hätten wir es vorher besprochen, bestellten wir beide zum Tee crumpets mit Butter und sahen uns verwundert und erwartungsvoll an.

Amadis, der Ritter ohnegleichen, muss in seinem Grab rotiert haben, denn meist vergehen Jahrzehnte, oder man könnte sogar sagen Jahrhunderte, bis jemand soviel über ihn spricht, wie wir es damals taten. Drei Jahrhunderte des Vergessens schwebten über den großen Romanen von einst, und wir erinnerten uns an jenen spanischen Edelmann, der eines Tages einen anderen spanischen Edelmann besuchte, dessen Familie er in Trauer antraf. "Amadis ist tot", sagte der trauernde Spanier und deutete auf das geöffnete Buch, auf den sperrigen, unpraktischen Folianten, der den Traum vieler Jahrhunderte in praktische Sätze gebracht hatte, den Traum, der dann verlorengegangen ist. Wir sprachen darüber, was für ein schöner Name Oriana sei und auch Urganda la Discognue und Galaor und welch wunderbare Namen auch die vielen erfundenen Inseln im mystischen Mittelmeer trügen.

Ich fand es sehr bedauerlich, dass ich nicht die Gelegenheit gehabt hatte, den Namen und die Nationalität meines neuen Freundes in Erfahrung zu bringen, denn ich hatte bemerkt, dass er kein Engländer war, aber seine Aussprache erinnerte mich an keinen der mir bekannten Akzente. Ich fand dies um so bedauerlicher, da es Freitag war und ich am Nachmittag zu Cynthias Familie fuhr, um mein Wochenende bei ihnen zu verbringen.

Ich war in transzendentaler Stimmung, daher aß ich nur ein paar Austern zu Mittag und ging dann in die Bond Street, um Cynthia ein wunderschönes Geschenk zu kaufen. Ich erstand mehrere wunderschöne Dinge, eine Lippenpomade in einer Golddose mit einem ganz modernen Muster, ein altfranzösisches Hundehalsband und ein Abendkleid, das der Kellnerin aus dem Restaurant sehr gut gestanden hätte; mir wurde gerade noch rechtzeitig bewusst, dass die Beziehung zwischen mir und Cynthia nicht so geartet war, dass man hätte Kleider schenken können, also schickte ich das Paket an Eileen, und die Kellnerin lud ich zum Dinner ein. Selbige hieß Doris, und da sie Engländerin war, hatte sie in dieser Woche keine Zeit mehr, aber in der Woche darauf verbrachten wir einen sehr angenehmen Abend miteinander, ich würde jedoch gerne der Chronologie folgen, wenn dies möglich ist. Außerdem ist Doris nicht weiter von Bedeutung, zu jenem Zeitpunkt hatte ich diese ganze Stimmung schon hinter mir, von ihr möchte ich nur noch erzählen, dass im Auto, als ich sie nach Hause brachte - ich erzähle doch lieber nichts von ihr.

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