Anette Lange: "Die unverwechselbare Stimme"

Ihre Praxis, Psychosomatik und Philosophie


Anette Lange, die Autorin des gegenständlich besprochenen Sachbuchs, studierte Philosophie und Germanistik, klassischen Gesang und hat eine atem-pädagogische Ausbildung nach Ilse Middendorf. Sie promovierte bei Peter Sloterdijk über die Stimme und arbeitet seit 1991 als "singende Philosophin" und "philosophierende Sängerin" in eigener Praxis in Freiburg.

Anette Langes unverwechselbare Sprache ist einer ihrer Sensoren, mit dem sie sich der menschlichen Stimme nähert. Ihre wissenschaftlich präzise und gleichzeitig musisch einfühlende Sprache erweitert den Horizont für den Leser, wie man sich in eine Stimme einhören/fühlen kann.

Klänge werden beschrieben, Hörerlebnisse vermittelt - und dies geschieht mit unglaublicher Sprachkunst. Anette Lange tritt mit der sorgfältigen Wahl ihrer Worte tief in das Schwingen des menschlichen Körpers ein. Ein Spürsinn, der wohl ihre körperliche Wahrnehmungsfähigkeit ihrer Arbeit widerspiegelt.


Als Leser muss man sich auf einen fordernden, anspruchsvollen und in seinem technischen Wortschatz wechselnden Text einlassen. Gesangstechnische Begriffe, Begriffe aus der Psychosomatik und Philosophie fließen mit Zitaten aus der Literatur und ganz persönlichen Wortschöpfungen (z.B. "otovokal") - ineinander.

Ausgebildet nach der Atemschulung nach Middendorf, beschreibt Anette Lange ein ganzheitliches Hören auf die Stimme. Ihr ganzer Körper reagiert auf "Gehörtes".
Durch ihre subtilen Einsichten in die menschliche Stimme und Erfahrungen hat der Leser an dem sich immer wandelnden Medium Stimme teil.


Das Buch ist ein Juwel für Gesangspädagogen, Stimm- und Atemtherapeuten und erschließt einem eine neue Sensorik und Empfindsamkeit für das menschliche Instrument Stimme.

Inhaltsverzeichnis:
I. Vorwort
II. Über Körpertonus und Atembewegung oder: meine Amöben
- Johanne und die Zähigkeit des Früh-Somatisierten
- Beate - die plötzliche Eruption traumagebundener Energie
- Quang denkt um
III. Zu einer audiovokalen Interpsychosomatik oder: Carmen - la diabola
- In-carnate and In-vocate Your Own "Carmen".
(Bizets Oper "Carmen", "Wie Schwangerschaftsgymnastik", Unser tägliches Tönen gib uns heute)
- Zwei-Sein ist noch mehr, als ich dachte
(Dyadische Spekulationen zum "individuellen" Atemmuster, Wenn Therapie künstlerisch und Kunst, therapeutisch wird)
- In-carnate and In-vocate Your Own "Carmen" - Fortsetzung
IV. Die Kontextualität von Primär-Klang-Produktion und Resonanz oder: "Vibrations"
- Corinna und Cosima - C2
(Respekt vor der Gestalt und der Trägheit unserer Materialität, Von einer Art Geschlechtertheorie zu globaler Phonosophie)
- Weitere In- und Extonationen
(Unser Sing-In, To be out, Vera und andere Mezzos)
Der Hauch einer modernisierten Register-Physiognomik
.
- Divergenz und Dämpfung zwischen einem Guru und mir
(Eine Theorie des Pianissimo und ihr weltverbesserndes Crescendo)
- Hedis Himmelfahrt – Lektionen in Hingabe
(Wir als Stimmlippenschwingung und Verstärkung)
V. Artikulation, Ansatzrohr; Sprechen, Singen; "Natürlich natürlich!" - oder: zu einer akustischen Kulturtheorie
- Die traurige Geschichte von Ina und Thomas
- Laute und Lateralisation
- Sprachentwicklung als Fortschritt und Verlust
- Bruno und Jost nebst ein bißchen Split-Theory.
- Das richtige Buch im richtigen Augenblick.
- Der Zusammenklang von Therapie, Ästhetik und Ethik
- SIC - "Symptomatic of Innocent Clustering"
- Lautbildung I: Vokale und Sängerformanten
- Lautbildung II: Konsonanten und der Unterschied zwischen Singen und Sprechen.
- Technik I - Rock/Pop
- Technik II
- Tiefendimensionen der zwei herrschenden Stimm-Ideale
- Topologien des Rock/Pop
- Topologien des Belcanto
- Neue Stimmen
VI. Kein Schluß
VII. Dank

(DP; 02/2008)


Anette Lange: "Die unverwechselbare Stimme. Ihre Praxis, Psychosomatik und Philosophie"
Klett-Cotta, 2007. 224 Seiten.
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Leseprobe:

Vorwort

[...] Ich weiß nicht, wie alt Sie sind, ob Sie Frau oder Mann sind, welchen Beruf Sie ausüben, wie "gebildet" Sie sind, welche Interessen, welche Wünsche Sie haben. Wenn ich mit Menschen praktisch arbeite, spüre, höre, sehe ich, wie es ihnen geht, ahne ich, was sie fühlen, was sie denken. Wir können uns austauschen; miteinander reden; Mißverständnisse klären, beispielsweise mit Studenten oder Ärzten, die objektive Inhalte so dominant werden lassen, ihr subjektives Erleben in so hohem Maße hintanstellen, daß sie ihrer Phonation bei Referaten und Vorträgen das über lebensnotwendige Minimum an vitaler Basis entziehen. Verzweifelt versuchen sie dennoch irgend etwas Schwingungsähnliches zu produzieren, doch ihre Anstrengung führt meist nur zu einer gepreßten Tongebung, zu Kratzen, Räuspern und Heiserkeit.

Mit Schauspielern, deren Seelen, Körper und artikulierende Münder sich so übertrieben auf ihr Publikum hin verbiegen, daß ihnen kein Innenraum mehr für Emotion, für die Vorbereitung eines authentischen Ausdrucks, für eine mühelose, resonatorische Verstärkung bleibt. Platt wie Briefmarken stellen sie sich als gekonnte Bilder von Gefühlen auf die Bühne, rational verständlich, jedoch nie diese übertragend, nie ansteckend.

Mit Frauen in Männerberufen, die, weil sie glauben, sich dann besser durchsetzen zu können, ihre Stimme runterdrücken, bis sie fast die Indifferenzlage, die mittlere Sprechstimmlage ihrer männlichen Kollegen erreicht haben - nur der Druck im Hals und die schnelle Erschöpfbarkeit des Organs stören.

Mit liberalen, antiautoritär eingestellten Lehrern, die sich nicht trauen, beim Zurechtweisen von Schulklassen auch aggressiv zu sein. Die Fähigkeit, wirklich laut zu brüllen, spüren Kinder auch dann, wenn von ihr kein Gebrauch gemacht wird. Mit pflichtbewußten, frommen Kirchenchorsängerinnen, die sich stimmlich ruinieren, um den vollkommen überalterten Sopran zu retten. Mit Steuerfachfrauen, die es sich partout in den Kopf gesetzt hatten, das dreigestrichene "e" im Duett zwischen Christine und dem Phantom der Oper zu erreichen.

In größenwahnsinnigen Augenblicken habe ich manchmal den Eindruck, jedem etwas beibringen zu können: dem Manager, indem ich eindrucksvoll strukturiert, kopfig auftrete; der leicht depressiven Nur-Hausfrau, indem ich an ihre Mädchenträume anschließe; der Casting-Ehrgeizigen, indem ihre Rückenschmerzen allmählich besser werden; dem adoptierten, angeblich IQschwachen Kind aus Südamerika, indem ich es fast ausschließlich lobe. Doch auf Sie kann ich nicht reagieren und dennoch sind Sie wichtig. Erst jetzt spüre ich, wie einsam ich beim Schreiben war.

Ein Fachbuch über die Stimme?! Erwarten Sie, daß ich mich kompetent in einem medizinischen, logopädischen, körpertherapeutischen, vokalpädagogischen, musikwissenschaftlichen oder künstlerischen Vokabular bewege; daß ich Bereiche genau definiere; Methoden klar darlege? Sind Sie gespannt, welche Richtung ich vertrete? Natürlich habe auch ich mein Handwerk gelernt, habe klassischen Gesang studiert und eine Atemausbildung nach Ilse Middendorf gemacht - mein Anliegen ist jedoch ein anderes als das Vermitteln ausgefeilter Techniken. Also doch kein Fachbuch? Ja, sogar eines, das - wie Sie bald merken werden - mit einem Anspruch von "Grundlagenforschung" auftritt. [...]

Ich stelle Ihnen hier keine neue Methode vor; sondern möchte Gewohnheiten, Selbstverständlichkeiten, Naturhaftes hinterfragen -– was sowohl Sie als auch mich selbst zunächst verunsichern kann. Ich will beginnen, unser vokales Potential, dessen Rahmenbedingungen unpassend geworden sind und das deshalb in Gefahr ist, seinen Stellenwert zu verlieren, neu zu bergen. Ich möchte die vertrauten Konturen des vokalen Settings sowohl mikro- als auch makrologisch erweitern, Linien sowohl ins Innerste als auch ins Äußerste des humanen Sounds ziehen. Was ist damit gemeint? Gäbe es einen auditiven Photoapparat, könnten Sie sich mein Vorhaben als einen ständigen Wechsel zwischen Verkleinern und Vergrößern vorstellen. Einmal vertiefe ich mich ins ganz Nahe, Persönliche, dann wieder experimentiere ich mit großen Entfernungen, mit Weitwinkeln, spanne psychologische oder kulturtheoretische Horizonte auf. Auch stilistisch resultiert hieraus eine spannungsgeladene Mischung verschiedenster Umgangsweisen: Notizen zu eigenen Erfahrungen, die den Eintragungen in ein Tagebuch gleichen, Fallgeschichten, kurze physiologische Abhandlungen, körper- wie seelentherapeutische, soziologische Betrachtungen und philosophische Reflexionen.

"Gemeinsam Tönen" könnte in einer Gesellschaft, die über immer mehr Freizeit verfügt und in der immer leidvollere Vereinsamung herrscht, mehr bedeuten als wieder und wieder Bachs "Weihnachtsoratorium" oder Mozarts "Requiem" aufzuführen. Die ehrgeizigen Phantasien von Dirigenten treiben überalterte Chöre voran. Dort, wo durch meist viel zu tief gesetzte, vierstimmige Hits die Jugend rekrutiert werden soll, machen schon während der Probe Halsbonbons die Runde - der unphysiologische Stimmeinsatz führt zur Heiserkeit. Beide Szenarien - sowohl der antiquiert arrogante Anspruch der ernsten Musik als auch die Anbiederung an die Unterhaltungsindustrie - sind Zeichen einer Unstimmigkeit zwischen dem menschlich-phonatorischen Bedürfnis, das in der Moderne offenbar zunimmt - Karaoke! Superstar! -, und den Formen seiner Verwirklichung.

Wie wäre es, wenn sich unsere Tön- und Redelust nicht nur in vorgefertigte Bahnen zwängen müßte? Wenn es auch ganz andere Kompositionen gäbe? Nicht solche, die sich an der strengen Vertikalen herkömmlicher Gesetze - diese fortführend oder aber sich dagegen abgrenzend - orientierten, sondern solche, die ihren Ausgang von den uns synthetisierenden Horizontalen schlicht alltäglicher Äußerungen nehmen würden? Ist das ein bißchen zu abstrakt gesagt? Werke für Menschen! Empathisch mit ihren individuellen Entfaltungen, auf die Berechnung ihrer Manipulierbarkeit verzichtend! Vielleicht bringt Ihnen unsere Mini-Oper "Der Trick" eher nahe, was ich meine? Auf einem anspruchsvolleren Niveau sich so zu begegnen und so kreative Prozesse zu initiieren, käme einer neuen Klang-Kunst-Ära gleich. [...]

Im Gegensatz zu vielen anderen Büchern über die Stimme möchte ich mich auch beim Schreiben über diese möglichst dicht an die bislang theoretisch so sehr vernachlässigte therapeutisch ästhetische Praxis heften: Die Gewichtungen zwischen fokussiertem Detail und Ganzem sind von daher anders als gewohnt. In einem Bild gesprochen, lieber Leser, präsentiere ich Dir keinen zwanghaft perfekt aufgeräumten Kleiderschrank - Schubladen, Fächer, Bügel -, sondern wir laufen zusammen über Designerstege, durch Konferenzsäle, Büros, Freizeitanlagen, Punkkeller, Schwimmbäder und Schlafzimmer, um darüber zu diskutieren, wie sich die Reichen, die Armen, die Dünnen, die Dicken, die Angepaßten und die Ausgeflippten anziehen; ob dieser Frau, diesem Mann, diesem Kind der Pulli steht; ob er zur Hose paßt; ob es der richtige für ein Referat oder ein Rendezvous ist. Fast immer werden wir in Bewegung bleiben; nur selten halten wir an; Überschriften meinen eher die Welle, auf der wir gerade reiten, als einen Zaun; selbst die anatomischen Skizzen sind von weniger starren, verfließenden Zeichnungen umgeben.

Im folgenden Kapitel "Über Körpertonus und Atembewegung oder: meine Amöben" thematisiere ich unseren sozusagen als Haut leiblich konkretisierten Übergang zwischen Innen und Außen. Ohne ein Empfinden für diesen würden später dargestellte Zusammenhänge zwischen den Situationen, in denen wir uns aufhalten und phonologischen Tatsachen wie z. B. der Kehlkopfposition wie Hexerei und mysteriöse Telepathie wirken. Das III. Kapitel "Zu einer audiovokalen Psychosomatik oder: Carmen - la diabola" entscheidet sich nach einem anfänglichen, aus guten Gründen gescheiterten Schielen in die Körpertiefe doch für einen Weitwinkel: Wir üben, diejenigen Dynamiken, die zuvor taktil "spürbar" geworden sind, nun sozusagen "durch die Luft" wahrzunehmen. Unsere leiblichen wie seelischen Abstände zueinander, unsere Fähigkeiten, sowohl nah zu sein als auch Grenzen zu ziehen, konstituieren angemessen glückliche oder aber Über- und Unterspannungen. Diese wiederum sind die Basis unseres Klingens. Lautlosigkeit, Stille tritt ein, wenn unsere kommunikative Entfernung zu groß oder aber zu klein wird. In wie starkem Ausmaß die Prozesse zwischen uns das Frequenzspektrum unseres Tönens selbst bestimmen, wird im IV. Kapitel "Die Kontextualität von Primärklang-Produktion und Resonanz oder: 'Vibrations'" durch ein schnelleres Oszillieren zwischen Situations- und Klangbeschreibung gezeigt und soweit möglich erklärt. Da all diese Zusammenhänge, die unser gemeinsames Leben wesentlich gestalten, eher unbewußt ablaufen, als Hintergrund und im Verborgenen, registrieren wir ihre Gefährdung durch "höhere" mentale Vermögen meist nicht. Auf die Spaltungen von gesamtgesellschaftlicher Tragweite, die sich deshalb vollziehen, mache ich in Kapitel V aufmerksam: Artikulation, Ansatzrohr; Sprechen, Singen; "Natürlich, natürlich!" - oder: zu einer akustischen Kulturtheorie. [...]

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