Andrzej Stasiuk: "Unterwegs nach Babadag"


Orte und Menschen, die nur als Erzählung existieren

Ja, es läßt sich nicht leugnen, daß mich der Schwund, der Zerfall interessiert, alles was nicht so ist, wie es sein könnte oder sein soll. Alles, was auf halbem Wege stehengeblieben ist und keine Kraft, keine Lust oder keine Idee mehr hat, alles, was man eingestellt, aufgegeben oder sich abgeschminkt hat, alles, was nicht überlebt, keine Spuren hinterläßt, was nur um seiner selbst willen besteht und keine Wehmut, Trauer oder Erinnerung weckt. Vollendete Gegenwart, Geschichten, die so lange dauern, wie sie erzählt werden, Dinge, die nur existieren, wenn sie jemand betrachtet. (Seite 233)

Andrzej Stasiuks Buch "Unterwegs nach Babadag" stellt eine vergessene, von niemandem gebrauchte Welt vor und würdigt die Freiheit, die jene Menschen genießen können, die nicht im Zentrum medialer Aufmerksamkeit stehen.

Wo findet man diese Völker, die in ihrer Verstecktheit vielleicht glücklicher sind als wir? Sie sind geografisch nahe, aber in unserem Bewusstsein unendlich weit weg, z.B. in Babadag, einem kleinen, müden Ort in der ostrumänischen Dobrudscha in der Nähe des Donaudeltas.

Auch in Polen, der Slowakei, Ungarn, anderen Teilen Rumäniens, Slowenien, Albanien und Moldawien suchte Stasiuk nach dem un- oder unterbewussten Europa, nach jenen Landstrichen, die es in unserer Vorstellung nicht gibt, weil wir sie nicht wahrnehmen.

Die einzelnen Sequenzen des Buches, fünfzehn Texte über Reisen in die östlichen Teile, wurden teilweise zuerst in polnischen Zeitungen und Zeitschriften, einige auch auf Deutsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht und für das Buch, das am 2. Oktober 2005 mit dem Nike-Preis für das beste polnische Buch des Jahres 2005 ausgezeichnet wurde, überarbeitet. Andrzej Stasiuks Streifzüge durch Grenzgebiete erinnern oft an die großartigen Essays von Karl-Markus Gauß; es wäre nicht verwunderlich, wenn sich die beiden auf der Suche nach dem anderen Europa irgendwo begegneten. (So wie Stasiuk in Rosia den Siebenbürger Gefängnispfarrer und Autor Eginald Schlattner treffen wollte und sich viele Landschaften auch über ihre Literatur erschließt.) Doch Gauß bleibt Reporter, während Stasiuk über die nachvollziehbare Darstellung hinausgeht, mit den Assoziationen der Leser spielt und einen Schritt weiter an die Grenze des Fiktiven führt.

Metaphysisches findet er in realen Orten, im Diesseits und in der Gegenwart, indem er Menschen und Landschaften so realistisch, fast hyperrealistisch schildert, dass sie zu übersinnlichen Trugbildern werden, die zu unserem bisherigen Wissen von Europa nur schwer passen. Wissen ist nicht vorhanden, wenn es nicht kommuniziert wird. Im Kommunizieren über vorhin Unbekanntes gibt der Autor Anstoß zu neuem Wissen, das sich aber - wie visionäre Fiktion - im Leser kaum mit enzyklopädischem Vorwissen verbindet. Völlig neue Vorstellungen von neuen alten Ländern bauen sich auf. So begründen seine Reiseskizzen ein neues, europäisches Macondo, in dem die Geschichten aus den Grenzen zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit wachsen.

Wer die beschriebenen Länder besuchen möchte, wird in Andrzej Stasiuks Buch zwar Inspiration und einen Wegweiser zur vergessenen Welt finden, aber keinen Reiseführer. Die Reise ins andere Europa - gegen die Macht bisheriger Kommunikationsgewohnheiten - muss jeder selbst machen.

(Wolfgang Moser; 10/2005)


Andrzej Stasiuk: "Unterwegs nach Babadag"
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Suhrkamp, 2005. 303 Seiten.
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Andrzej Stasiuk, der in Polen als wichtigster jüngerer Gegenwartsautor gilt, wurde 1960 in Warschau geboren, debütierte 1992 mit dem Erzählband "Mury Hebronu" ("Die Mauer von Hebron"), in dem er über seine Gewalterfahrung im Gefängnis schreibt. Stasiuk wurde 1980 zur Armee eingezogen, desertierte nach neun Monaten und verbüßte seine Strafe in Militär- und Zivilgefängnissen. 1986 zog er nach Czarne, ein Bergdorf in den Beskiden.
Er ist freier Mitarbeiter bei der Zeitschrift "Czas Kultury" und bei der Wochenzeitung "Tygodnik Powszechny". 1994 erschienen "Wiersze milosne i nie" ("Nicht nur Liebesgedichte"), 1995 "Opowiesci Galicyjskie" ("Galizische Erzählungen") und "Bialy Kruk" ("Der weiße Rabe"), 1996 der Erzählband "Przez rzeke" ("Über den Fluss") und 1997 "Dukla".
In seinem eigenen Verlag "Czarne" brachte er eine Sammlung mit Texten von Zygmund Haupt (1907-1975) heraus und leitete dadurch die Wiederentdeckung dieses in die USA emigrierten Autors ein, der als Meister der literarischen Reportage gilt.
2002 erhielt Andrzej Stasiuk den von den Partnerstädten Thorn (Polen) und Göttingen gemeinsam gestifteten Samuel-Bogumil-Linde-Literaturpreis.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Hinter der Blechwand"

In einem alten Lieferwagen klappern Wladek und Pawel die Märkte und Basare Südosteuropas ab. Bis vor kurzem sind sie ihre Gebrauchtkleider aus "Paris-London-New York" ohne Probleme losgeworden. Doch neuerdings tauchen zwischen Blech, Beton und schmutzigen Glasscheiben farbenfrohe Häuserblocks auf: malerische Hieroglyphen preisen Textilien aus China zu Niedrigpreisen an. Als Wladek sich in die Kartenverkäuferin eines slowakischen Wanderrummels verliebt, werden die beiden Freunde unversehens in das kriminelle Treiben von Menschenschmugglern hineingezogen. Das Ganze entwickelt sich zu einer rasanten Verfolgungsgeschichte, in der es nicht mehr um gefälschte chinesische Westwaren, sondern um Leben und Tod geht.
Andrzej Stasiuk hat einen Roman der Gegenwart und der Zukunft geschrieben - wie die Globalisierung über den Osten hereinbricht und ihn verwandelt. Szenen von verstörender Grausamkeit, Episoden von inständiger Zartheit, ein Abgesang auf den europäischen Kontinent: in dieser Melange liegt der Reiz dieses Buches. Die meisterhaft gezeichneten Landschaften im Abendlicht der Geschichte bilden den Hintergrund einer Erzählung vom materiellen und moralischen Zusammenbruch einer ganzen Lebenswelt. (Suhrkamp) zur Rezension ...
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"Neun"
Pawel, ein junger Geschäftsmann, der es zu einem bescheidenen Textilhandel gebracht hat, erwacht in einer Trümmerlandschaft. Der Spiegel im Bad ist zerschlagen, Tuben, Bürsten und Fläschchen liegen auf dem Boden, Kleider sind aus dem Schrank gerissen. Er verlässt seine Wohnung und fährt durch Warschau, getrieben von Unruhe und Angst. Er hat Schulden, man ist ihm auf den Fersen, er braucht Geld. Ein Freund, Jacek, an den er sich um Hilfe wendet, entgeht knapp einem Überfall und ist ebenfalls auf der Flucht.
Stasiuk erzählt diese Geschichte aus dem kriminellen Milieu so unspektakulär wie beklemmend. Ohne Kommentare, präzise wie ein allgegenwärtiges Kameraauge, begleitet er seine Protagonisten von Schauplatz zu Schauplatz: über Bahnhöfe und Magistralen, durch Industriebrachen und Hotelruinen, wilde Gärten und aufgeweichte Lehmwege, heruntergekommene Innenhöfe und schließlich auf die Dächer hoch über der Marszalkowska, wo die Verfolgungsjagd endet. Sein multipler Erzähler lauscht den Atemzügen der Großstadt, belauert sie wie ein Lebewesen, spürt dem Vergehen der Zeit nach und wird Zeuge eines Mordes. (Suhrkamp)
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"Das Flugzeug aus Karton"
Am Anfang steht die Sehnsucht des Kindes, zugleich hier und anderswo zu sein. Gestillt wird sie beim Reisen und beim Lesen.
Andrzej Stasiuks Essays und Prosaskizzen sind Autoren, Büchern und Filmen gewidmet, sie handeln von Religion und Popkultur, von Verbrechen und Grenzüberschreitungen: ein autobiografisches Album des von der Kritik gefeierten polnischen Autors, der uns nicht nur seine Lieblingsschriftsteller Beckett, Hrabal und Platonow vorstellt, sondern sich auch als hellsichtiger Kritiker unserer Gegenwart erweist.
Seine Lektüre ist so inspiriert, geduldig und unabhängig wie sein Blick nach draußen. Bücher, Videos, Landkarten und die Welt vor dem Fenster - mehr braucht er nicht, um die Wahrnehmung für aktuelle Phänomene zu schärfen: den Bedeutungswandel des Todes, die religiösen Surrogate der Massenkultur, den Verlust der Erfahrungsfähigkeit.
Eingeschobene Prosastücke - mitteleuropäische Impressionen und Erinnerungsbilder - dokumentieren die "Vielfalt der Welten": hier der mediale Kosmos, die Verfügbarkeit aller nur denkbaren Informationen, dort ein verfallender Kurort mit Hotel und Sanatorium, "ein galizischer Zauberberg".
Nicht ohne Melancholie kündet Stasiuk vom Verlust des Geheimnisses in unserer total erleuchteten, vom Visuellen beherrschten Welt. Und erinnert an die Magie eines Kinderfotos, das uns vielleicht einmal vor der letzten, größten Einsamkeit bewahren wird.
Wie uns auch nur ein Flugzeug aus Karton in den Himmel bringen kann. (Suhrkamp)
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"Der Osten"
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"Beskiden-Chronik" 
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"Die Welt hinter Dukla"
Dukla ist ein verschlafenes Städtchen in Südpolen, am Rande der Karpaten. Auf dem Marktplatz hat sich alle Leere der Welt versammelt, und ein Wind herrscht, der direkt aus Alaska und Sibirien herüberweht. Dukla mit seinen bröckelnden Mauern und dem Schloss der Fürsten von Brühl, den beiden Barockkirchen und der niedergebrannten Synagoge ist ein Ort, der eine magische Anziehungskraft auf den Erzähler ausübt. Wie unter Zwang kehrt er immer wieder dorthin zurück, aus allen Himmelsrichtungen, zu allen Tages- und Nachtzeiten. Was er bisher war, wird durch Dukla auf sanfte und radikale Weise in Frage gestellt. (Suhrkamp)
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"Galizische Geschichten"
In Südostpolen, früher ein Teil Galiziens und schon immer zu den ärmsten und rückständigsten Regionen Polens gehörig, findet Andrzej Stasiuk, was er sucht: Bilder aus dem imaginären Alltagsmuseum Mitteleuropas, Geschichten, die er sich in dämmrigen Wohnstuben, in Kirchenruinen und an den Busstationen einer vergessenen Provinz erzählen lässt, Lebensträume und Hoffnungen, die sich gegen die Gewalt einer ganzen Epoche behauptet haben. Ein sympathisierender Blick ruht auf den Gestalten, und auch dem Übernatürlichen und Unwahrscheinlichen verschließt der Autor sich nicht. Stasiuk entwirft Menschen mit sparsamen Strichen und ihr Drama auf wenigen Seiten, unter Verzicht auf jede Erklärung. (Suhrkamp)
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