Karin Slaughter: "Vergiss mein nicht"
"Das Armband"

"Vergiss mein nicht"

Nach "Blindsighted " (deutsch "Belladonna") sind die Hauptakteure gut etabliert und die "Bühne" ist den Lesern halbwegs vertraut, weswegen hier viele Erklärungen wegfallen. Auch weil in diesem Roman wiederholt Bezüge zu Ereignissen des ersten Romans hergestellt werden ist es angeraten, "Belladonna" zuerst zu lesen, damit man alle Anspielungen erkennt bzw. versteht.

Wenn ein Polizeichef und die Chefärztin der Kinderklinik eines kleinen Ortes wie Heartsdale sich auf einem Eislaufplatz verabreden - noch dazu an einem Samstagabend - dann müssen sie damit rechnen, dass sie viele Zeugen haben, die mit einem der Beiden in irgendeiner Art und Weise mal zu tun gehabt haben. Doch sehr schnell wird aus dem romantischen, von allen Augen beobachteten Treffen der Auftakt eines Albtraums, denn zunächst wird in einer Toilette des Eislaufplatzes ein toter Säugling gefunden, und nur wenige Minuten später stellt die dreizehnjährige Jenny Weaver auf dem Parkplatz den etwas älteren Mark Patterson. Sie bedroht ihn mit einer Waffe, und als Jeffrey hinzu kommt um sie mit der Waffe in der Hand zur Aufgabe zu zwingen, lässt das Mädchen ihm nur die Möglichkeit, sie zu erschießen, bevor sie den Jungen erschießen kann. Die Tatsache, ein kleines Mädchen erschossen zu haben, soll Jeffrey den ganzen weiteren Roman hindurch verfolgen.

Was zunächst wie ein ausgeuferter Streit zwischen Teenagern ausgesehen hat, entwickelt sich schnell zu etwas wesentlich Schlimmerem. Bei der Autopsie der Leiche des Mädchens stellt Sara fest, dass diese schwere Missbrauchsspuren aufweist. Blaue Flecken auf den Armen und Beinen und im Brustbereich, Spuren infektiöser Erkrankungen im Rachenraum, schlecht verheilte Brüche und malträtierte Geschlechtsteile, wie man sie aufgrund der weiblichen Beschneidung im asiatischen und afrikanischen Raum kennt. Zudem ist die Vagina zugenäht. Und sowohl Arme als auch Beine weisen Verletzungen auf, die sich das Mädchen höchstwahrscheinlich selbst zugefügt hat.

Die Ermittlungen beginnen und umfassen schnell mehrere Familien und auch Kreise der kirchlichen Jugendarbeit. An den Nachforschungen beteiligt ist u. a. Officer Lena, die sich immer noch nicht von ihren grausamen Erfahrungen in "Blindsighted" erholt hat. Auf eine seltsame Art und Weise entsteht zwischen ihr und Mark Patterson eine Beziehung, denn auch der Junge scheint in einer Welt des drogenunterstützten Missbrauchs zu leben. Eines Missbrauchs, dem er schon seit Jahren ausgesetzt ist, und in dessen Verlauf er aus der Rolle des Opfers durch seine Peiniger immer mehr in die Rolle des Täters getrieben wurde. Eine Rolle, mit der er nicht umgehen kann, so dass er schließlich versucht, Selbstmord zu begehen.

Die Ermittlungen dehnen sich auf immer größere Bereiche aus, zusätzlich über das Internet in alle Richtungen, und die Zahl der potenziellen Opfer wächst fortwährend, wobei diese von ihren Altersgenossen auf Grund ihrer kompensatorischen Promiskuität oft als Schlampen gesehen werden, was natürlich ungerecht ist, aber leider automatisch eintritt, da die meisten Teenager ein Mädchen, das viel Sex hat, oft nur als gierig oder "notgeil" sehen und nicht realisieren, dass hier ein Opfer grausamer Gewalt Beziehungen und Vertrauen auf die einzige Art und Weise zu bekommen versucht, die es aus dem meist häuslichen Umfeld kennt. Opfer und Täter schweigen sich natürlich meist gleichermaßen über diese Hintergründe aus. Und wer liest schon als Teenager Fachbücher zur Opferpsychologie - und wendet diese Inhalte auf die Menschen in seiner Umgebung an?

Diese wahrheitsverdrängende Haltung, auch seitens einiger Erwachsener, macht die Ermittlungen für Sara, Jeffrey und Lena - aber auch für alle anderen Beteiligten - emotional sehr schwierig, und Jeffrey fühlt sich sehr oft zur Handgreiflichkeit verführt, besonders, wenn er bekennenden Pädophilen begegnet.

Dieses Buch beleuchtet den Bereich der organisierten Pädophilie sehr eindeutig, ohne verschiedene begleitende und unterstützende Aspekte in den USA näher aufzuzeigen. Hierfür verweise ich auf die Werke von Andrew Vachss, der Anwalt für Kinder ist - eine Art "Dirty Harry" im Gerichtssaal - und der zu diesem Thema einige Romane und Sachbücher geschrieben hat. Sogar der Comic-Fan findet unter dem Titel "Batman - The Ultimate Evil" etwas zu diesem Themenkreis. Wenn man dies mit den Informationen zum weißen Sklaven- und Drogenhandel in Ben Eltons "High Society" verbindet, dann wird einem grausam bewusst, wie weit verbreitet dieses Problem ist.

Ein spannender und - meiner Meinung nach - sehr wichtiger Roman zu einem der am meisten missverstandenen bzw. totgeschwiegenen Probleme der Welt.


Karin Slaughter (Hrsg.): "Das Armband"

16 Kurzgeschichten von 15 amerikanischen und britischen Autorinnen und Autoren, die in verschiedenen Ecken der Welt spielen und sich alle um den Weg eines Armkettchens mit einigen Glücksbringern daran durch die Jahre und Besitzerinnen und Besitzer drehen. Dabei sind die Glücksbringer mal selber von Bedeutung, mal bekommt das Schmuckstück "Zuwachs" durch neue Glücksbringer, die die jeweiligen Besitzerinnen und Besitzer daran anbringen. Wirkliches Glück hat aber keiner von ihnen. Eher im Gegenteil, und nur zu oft rutscht das Kettchen aus sterbenden Fingern um kurz darauf von einem neuen "Glückspilz" gefunden zu werden ...

Die einrahmenden beiden Kurzgeschichten/Kapitel hat die Herausgeberin selber geschrieben, wobei die erste Geschichte ("Rootbound") zur Zeit der amerikanischen Besiedlung spielt und mit dem Aufeinandertreffen von Fallenstellern und Indianern zu tun hat. Darin gibt es die ungewöhnlichste Vergewaltigung, über die der Rezensent je gelesen hat. Die beiden folgenden Geschichten/Kapitel haben mit dem Rassismus im amerikanischen Süden zur Zeit der Sklaverei ("Vanitas" von Emma Donoghue) und mit den amerikanischen Streitkräften im Zweiten Weltkrieg ("Cornelius Jubb" von Peter Robinson") zu tun. Kurz darauf - im Zusammenhang mit dem britischen Testpilotenprogramm - begegnen wir einem Trisomie-23-Opfer ("Down and Dirty" von Fidelis Morgan). Danach präsentiert uns Lynda La Plante mit "The Goblin" die erste schieflaufende Liebes- und Eifersuchtsgeschichte; ein Thema, das mit mehr oder weniger großer Gewalttätigkeit und aus verschiedenen Blickwinkeln danach in Mark Billinghams "Stroke of Luck", Denisa Minas "Two Death and a Mouthful of Worms", John Harveys "Favour" und Kelley Armstrongs "Plan B" stark im Vordergrund steht - kurz aufgelockert durch eine Polizeigeschichte von Lee Child mit dem Titel "The Snake Eater by the Numbers".

John Connollys "The Inkpot Monkey" erzählt die Geschichte einer gierigen Muse und des Preises eines wirklich großen Romans für seinen Autor. In "Acts of Corporal Charity" liefert uns Jane Haddam wieder einmal den Beweis, dass die grausamsten Fantasien manchmal aus der Feder von Frauen stammen. In "Not quite U" erzählt uns dann Laura Lippman ihre ganz persönliche und sehr realistische Version vom "Doppelten Lottchen", und im Rahmen der mehr oder weniger kindgerechten Erzählungen hören wir dann von Peter Moore Smith von "The Things We Did to Lamar" - und denen, die dann Lamar Anderen antat, was leicht an einige Erzählungen über Jugendliche von Stephen King erinnert. In "The Eastlake School" demonstriert uns Jerrilyn Farmer eindrucksvoll, was mit jungen Damen geschieht, an die ihre Eltern zu hohe akademische Ansprüche stellen.

In der letzten Geschichte werden schließlich die Überlegungen einiger christlich- fundamentalistischer Gruppierungen in den USA kritisch unter die Lupe genommen und außerdem werden die verbindenden Kernaspekte der vorhergehenden Geschichten zusammengeführt.

Sehr bedenkenswerte und spannende Geschichten von durchgehend hoher erzählerischer und sprachlicher Qualität. Die Autorinnen und Autoren sind den Krimifans zum Teil sicherlich bekannt, manche sind aber eher lokale Größen, so dass die Kurzerläuterungen am Ende des Buchs sicher noch Neugierde auf mehr wecken, besonders, da hier auch viele "novels in progress" angekündigt werden, die man schon mal vorbestellen kann.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 05/2004)


Karin Slaughter: "Vergiss mein nicht"
(Originaltitel "Kisscut")
Übersetzt von Teja Schwaner.
Wunderlich, 2004. 
ISBN 3-8052-0731-X.
ca. EUR 19,90.
Buch bestellen
Englischsprachige Ausgaben bestellen

Karin Slaughter (Hrsg.): "Das Armband"
(Originaltitel "Like a Charm")
Rowohlt, 2005.
ISBN 3-499-23867-5. 
ca. EUR 8,90.
Buch bestellen
Englischsprachige Ausgaben bestellen