Dominique Sigaud-Rouff: "Aimé"

Geliebt und nicht geboren


Vor genau 30 Jahren, im Sommer 1977 las der damals noch junge, ungebunden studierende Rezensent ein Buch einer ihm bis dahin unbekannten Schriftstellerin aus Italien. Oriana Fallacis "Brief an ein nie geborenes Kind" hat mich damals auf das Tiefste erschüttert. Der Kampf dieser beeindruckenden Frau um eine rechtschaffene Entscheidung, ob sie das Kind, das sie im Leib trug, behalten soll oder nicht, hat mich lange nicht losgelassen und bei allem Respekt über die freie Entscheidung von Frauen über das Schicksal ihrer ungeborenen Kinder doch zu der tiefen Überzeugung geführt, dass es Unrecht ist und allen Beteiligten unendlichen Schaden zufügt, ein Kind abtreiben zu lassen.

Nun, dreißig Jahre später, mittlerweile im späten Mannesalter noch glücklicher Vater und Ehemann geworden, begegne ich diesem kleinen Buch der 1959 geborenen Französin Dominique Sigaud-Rouff, die zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens vor einer ähnlichen Situation steht wie damals Oriana Fallaci und seither Millionen anderer Frauen. Doch, um ihr Kind bangend, ist für sie klar:
"Die jungen Mädchen sollen auf der Hut sein. Wenn ein Kind zu ihnen kommt und sie es ersehnen, sobald es da ist, sollten sie Ohren, Geist und Herz fest verschließen. Und so schnell wie möglich fliehen. Sie müssen es selbst wissen. Das ist schwierig. Manche haben ein instinktives Wissen, andere nicht. Manche haben Unterstützung, andere nicht. Der Ekel kann siegen, die zu großen Ängste, die Zukunft, die Unwissenheit. Die Sozialversicherung. Die Hungerlöhne. Gar kein Lohn. Aber ein Kind zur Welt zu bringen oder es aus der Welt zu schaffen sind zwei so entsetzlich entgegengesetzte Akte. Sein Kind zu tragen oder es zu verlieren. Es kommen oder verschwinden zu lassen. Wo man doch selbst gelebt hat, nachdem man zur Welt gebracht wurde. Wo man doch selbst davon berührt worden ist. Diejenigen, die bloß sagen, dieses Kind soll nicht geboren werden, wissen nicht, wovon sie reden."

Zweimal hat sie in den vergangenen Jahren schon ein Kind verloren, zweimal schon die Hölle zwischen Hoffnung und totaler Niedergeschlagenheit durchlitten, als sie, eine erfolgreiche Publizistin und Schriftstellerin, noch einmal spürt, wie ihre Brüste schwellen und ihr Körper sich verändert; sie ist noch einmal schwanger geworden.
Sie will das Kind unbedingt behalten, als ihr die Ärzte nach dem ersten Ultraschall sagen, es seien keine Herztöne mehr festzustellen. Mit großer Trauer und unendlichem Schmerz beginnt sie sich von diesem Kind zu verabschieden, vereinbart einen Termin zur Ausschabung, als die dortigen Ärzte wieder Herztöne wahrnehmen und der Fötus wieder etwas gewachsen ist. Große Freude breitet sich in der Familie aus: "Sogar V. beginnt daran zu glauben, sich darüber zu freuen. Er beginnt einzusehen, dass das Glück dieses Kommens stärker wiegt als die Frage seines und meines Alters, als die Frage der Zukunft, die wir dir bieten können oder nicht, als die Frage unserer finanziellen Situation. Ich habe jetzt die Gewissheit, dass das Leben über alle dieses Überlegungen siegen muss. Wir werden immer Mittel und Wege finden, dich bis ins Erwachsenenalter zu begleiten."

Wenige Tage nach dieser glücklichen Eintragung in ihr begonnenes Tagebuch setzen bei der Autorin Blutungen ein, und fünf Tage später notiert sie sprachlos und am Boden zerstört:
"Das tote Kind tragen.
Das in mir zerfällt."

Mit großem Schmerz nimmt sie erneut Abschied von Aimé, einem geliebten und nicht geborenen Kind.

Dominique Sigaud-Rouffs kleines Buch ist von einer sprachlichen Dichte und Schönheit, die das beschriebene Leid nur noch stärker wahrnehmbar machen. Ein engagiertes Plädoyer für das Leben und das Glück, Kinder in die Welt zu setzen und sie trotz aller erschwerten Bedingungen großzuziehen.
Ein großes, kleines Stück Poesie einer Autorin, von der man mehr auf Deutsch lesen möchte. Vielleicht verhilft uns der Antje Kunstmann Verlag, der dieses Buch ediert hat, bald dazu.

(Winfried Stanzick; 06/2007)


Dominique Sigaud-Rouff: "Aimé. Geliebt und nicht geboren"
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.
Antje Kunstmann Verlag, 2007. 92 Seiten.
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