Rafael Seligmann: "Die Kohle-Saga"

Der Tatsachenroman aus dem Revier


Das Ruhrgebiet ist voller Zechen. Einst bildeten sie eine Art Schlagader des Ruhrgebiets, heute ist davon kaum noch etwas übrig. Immerhin als Kulturzentrum wird so manche alte Zeche heute genutzt, so dass auch die Jugend durchaus noch Berührungspunkte mit dem Bergbau hat. Doch selbst ohne diese Zentren wären die Zechen auch für jüngere Generationen des Ruhrgebiets stets allgegenwärtig. Überall begegnet man den Wohnhäusern, in denen einst Bergmannsfamilien lebten, an jeder Ecke hört man den ruhrdeutschen Dialekt, der sich nicht zuletzt aus dem Bergbau und seinen Arbeitern heraus entwickelte, und noch immer finden sich zahlreiche Gesprächspartner zum Thema Bergbau, die von den alten Zeiten mit einem ernsten und einem weinenden Auge zu erzählen wissen, nicht zu vergessen die Tatsache, dass die Technische Fachhochschule in Bochum, gleich gegenüber dem Deutschen Bergbaumuseum gelegen, als einzige deutsche Fachhochschule den Studiengang "Steine und Erden" anbietet. Ja, die Kohle ist auch heute noch in gewisser Weise das Herz des Reviers, und so liegt Rafael Seligmanns Buch "Die Kohle-Saga", das im Dezember 2006 erschien, wie ein wertvoller Schatz in den Händen der Rezensentin aus dem Ruhrgebiet.

Auf 363 Seiten erzählt Seligmann die Geschichte des Ruhrpotts und beginnt damit 1884 mit Leszek Bialowons. Dieser verließ seine schlesische Heimat und machte sich ins Ruhrgebiet auf, um dort gutes Geld als Bergmann zu verdienen. Tatsächlich entpuppt sich Leo Bialo, wie er sich dort nennt, als guter und umsichtiger Bergmann, zeigt viel Ehrgeiz und verschafft sich binnen kürzester Zeit Respekt. Bei Tanzabenden auf Brautschau macht er die Bekanntschaft von Anna, die schließlich seine Frau wird und vier Kinder zur Welt bringt. Das vierte Kind ist zugleich das schicksalhafteste, denn bei der Geburt der einzigen Tochter Renata stirbt Anna.
Leo gibt die Schuld am Verlust der geliebten Frau längere Zeit dem kleinen Mädchen, doch durch sein Pflichtgefühl und das Zureden des Arztes Rubinstein, der zu einem guten Freund der Familie wird, bemüht sich Leo dennoch darum, seine Tochter anzunehmen und wie die anderen Kinder zu lieben - eine Entscheidung, die sich später für ihn sogar noch rentiert.
Aus den Kindern werden Erwachsene und in diesen zeigt sich die nächste Bergarbeitergeneration - aber auch das Kanonenfutter der Deutschen im Kriegsfieber und später fruchtbarer Boden für die braune Propaganda der Nazis.

Den Leser aus dem Ruhrgebiet nimmt die Geschichte sofort gefangen, haben die geschilderten Charaktere und Erlebnisse doch - ungeachtet der Zeit, zu der die Saga beginnt - hohen Wiedererkennungswert. Man kennt die genannten Straßen, Zechen; und sogar das eine und andere Lokal ist als solches auch heute noch bekannt.
Dabei lässt das Buch Leser aus anderen deutschsprachigen Regionen jedoch nicht alleine. Nur selten findet sich eine Anspielung, die so typisch für das Ruhrgebiet ist, dass Leser anderer Gebiete sie nicht verstehen können, und selbst wenn, dann lässt sie sich leicht überlesen, ohne dass es etwas nachzuschlagen gäbe - im Gegenteil bleiben solche Szenen wohl eher schlicht unbemerkt, ohne den Lesefluss im geringsten zu hemmen. Und der Lesefluss ist ein wichtiger Aspekt des Buches, denn von dem Lesebändchen aus Stoff wird man kaum Gebrauch machen, hat man das Schmökern erst begonnen.

Die Geschichte der Familie Bialo, die besonders die zu Anfang neugeborene Renata immer mehr in den Mittelpunkt rückt, ist allerdings nicht der einzige Bestand des Buches. Immer wieder werden geschichtliche Ereignisse in das Ganze eingebettet, so dass der Leser nachempfinden kann, was zur jeweiligen Zeit zu den größten Problemen zählte, was die Menschen beschäftigte und umgekehrt beobachten kann, wie die Figuren der Bialo-Familie auf solche Ereignisse reagierten.
Umso mehr die Geschichte jedoch voranschreitet, desto mehr Raum nehmen die historischen Themen und Beschreibungen ein und umso weniger Neues erfährt der Leser von der Familie Bialo.
Hier von einer Saga zu sprechen, ist insofern nicht ganz richtig. Zwar ist die erzählte Geschichte eine Generationen übergreifende, aber schlussendlich bleibt vielleicht gerade einmal ein Drittel des Buchumfangs, der von Leo, Renata und den anderen erzählt, alle anderen Seiten erzählen die deutsche Geschichte aus der Sicht des Ruhrgebietes nach.

Auch die zu Anfang so begrüßten Stereotypen werden im Verlauf der noch enthaltenen Handlung immer zahlreicher und vor allem konstruierter. Die zunächst so lebendig erscheinenden Figuren entwickeln sich immer mehr in eine Richtung, die wohl einzig den Zweck haben soll, verschiedene Aspekte des Ruhrgebietslebens abdecken zu können. Einer stirbt im Krieg, einer eifert dem Vater im Bergbau nach, einer wird zum Nazi, der befreundete Jude stirbt, eine der Töchter heiratet später einen italienischen Gastarbeiter, der eine Trattoria eröffnen will, und zwischendurch werden Tauben gezüchtet, kleine Nutzgärten gepflegt, und in erster Linie ist man den Sozialdemokraten zugetan.
Diese Beispiele zeigen, wie viele unterschiedliche Elemente man in eine einzige Familie gesteckt hat. Da ist man nicht "ein bissken so, ein bissken so", sondern völlig gerade heraus schwarz oder weiß - und mehr nicht.

Die anfängliche Begeisterung über das Buch weicht immer mehr der Enttäuschung, und schließlich mischt sich noch Langeweile ein, wenn die sachlichen Passagen immer länger und länger werden. Den letzten Schlag bekommt der Leser dann noch einmal am Ende des Buches. Im November 1968 wurde die Ruhrkohle AG gegründet, und mit dieser Gründung und den damit zusammenhängenden Änderungen im Bergbaubereich im Jahr 1969 endet "Die Kohle-Saga". Der Ruhrgebietsleser kann es kaum fassen, denn 1969 war doch längst nicht alles vorbei! Noch so vieles wüsste man selbst zu erzählen von 1969 bis heute. Ratlosigkeit macht sich breit, warum ausgerechnet an dieser Stelle alles plötzlich vorbei sein soll. Ein wenig Licht ins Dunkel bringt das Lesen der lokalen Presse: Die Ruhrkohle AG war an der Entstehung des Buches beteiligt und möchte die ersten 80 000 Exemplare vor allem an Mitarbeiter verschenken. Außerdem wurde ein zweiter Teil der Saga von Seligmann bereits angekündigt. Ach so ...

Wer nach lebendiger Ruhrgebietsliteratur sucht, findet davon mittlerweile einiges. Gerade für Ruhrgebietler selbst bieten solche Publikationen dann oft auch ein Mehr an ruhrdeutschen Anteilen und - wie man nach der Lektüre von Seligmanns Buch leider sagen muss - wirken im Ganzen sicherlich authentischer.
Wer hingegen eine durch eine Familiengeschichte aufgemöbelte Chronik des Ruhrgebietes sucht und sich dabei nicht daran stört, dass die Geschichte 1969 endet - oder zumindest der erste Teil -, dem sei dieses Buch jedoch empfohlen.

(Tanja Elskamp; 01/2007)


Rafael Seligmann: "Die Kohle-Saga. Der Tatsachenroman aus dem Revier"
Hoffmann und Campe, 2006. 363 Seiten.
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Rafael Seligmann wurde 1947 in Israel geboren. Nach einer Handwerkslehre nahm er ein Studium der Geschichte und Politikwissenschaften auf. Im Anschluss promovierte promovierte er über die Sicherheitspolitik Israels. Heute arbeitet er als Chefredakteur für die "Atlantic Times" und schreibt als freier Journalist zahlreiche Beiträge für "stern", "BILD", "WAZ" oder "Rheinischer Merkur". Darüber hinaus hat Rafael Seligmann bereits eine Vielzahl an kontroversen Sachbüchern veröffentlicht, darunter "Hitler. Die Deutschen und ihr Führer", aber auch bekannte Romane wie "Der Musterjude":

"Der Musterjude"
Lustlos quetscht Moische Bernstein im kleinen Jeans-Geschäft seiner Eltern die Hinterteile der Kunden in enge Hosen. Durch einen Zeitungsartikel wird er fast über Nacht zum Starkolumnisten - zunächst beim Nachrichtenmagazin "logo!". Seinen ersten großen Coup landet er, als er unsere Ära als "Hitlers Jahrhundert" entlarvt. Das öffentliche Echo ist gewaltig, die Auflagen steigen. Seine Karriere ist nicht mehr zu bremsen. Bald Chefredakteur eines großen Boulevardblattes in Berlin, geriert er sich als Anwalt der Leser, dem als Jude - im Gegensatz zu den deutschen Kolumnisten - jeder Tabubruch nachgesehen werden muss. Er plädiert für die Todesstrafe und Sterbehilfe, und sein Eintreten für die Abschaffung der "Schwindelsteuern" auf Tabak und Alkohol macht ihn zum Volkshelden. Doch auf dem Höhepunkt seines Erfolges wird der Parvenü selbst zum Opfer der Wahnsinnswelt der Massenmedien.
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"Der Milchmann"
Jakob Weinberg wohnt in München. Er ist siebzig Jahre alt, hat Auschwitz überlebt und genießt hohes Ansehen bei seinen Freunden. Sie nennen ihn "Milchmann", weil er damals im Lager eine Kiste mit Trockenmilch fand und zum Retter seiner Mithäftlinge wurde. So die sorgfältig gepflegte Legende. Weinberg kann nicht klagen: Er ist wohlhabend und hat eine junge Geliebte.
Ende Oktober 1995 passiert es: Eine Gewebeprobe verheißt Unheil, sieben Tage Ungewissheit. Es geht um sein Erbe. Seine Kinder, die Geliebte und seine Freunde setzen Weinberg unter Druck. Samstag, 4. November, ein neuer Schock: Yitzhak Rabin, den Weinberg verehrt, wird ermordet. Er ist verzweifelt. Ein Jude hat einen anderen erschlagen. Auschwitz kehrt drohend in sein Bewusstsein zurück. Nun versucht der "Milchmann" Ordnung in sein Leben zu bringen. Als er die Diagnose erfährt, handelt er entschlossen.
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