David Herlihy: "Der schwarze Tod und die Verwandlung Europas"


Wer oder was steckte wirklich hinter der Maske des "Schwarzen Todes"?

Der auf einem Rappen vor einer Wald- und Bergkulisse einher galoppierende "Schwarze Tod", geflügelt und mit Sense und Jagdbogen bewaffnet, dabei seine tödlichen Pfeile auf einen Menschen in Bitt- oder Gebetshaltung abschießend; diese apokalyptische Darstellung ziert die Vorderseite des Buches "Der schwarze Tod und die Verwandlung Europas". Das Bild ist von einem schwarzen Trauerrand umgeben, und schlägt man das Buch vorne auf, so sieht man auch da zunächst Schwarz, denn sowohl von vorn als auch von hinten, beidseitig also, wird der Buchblock von schwarzem Trauerkarton eingerahmt. Die zahlreichen zeitgenössischen Illustrationen im Text stellen auch zumeist das Sterben oder den personifizierten Tod dar, und sie zeigen diesen Tod als ein Monster, als grausames Ungeheuer, wie das in der Kunst des Mittelalters so gang und gäbe war, was aber natürlich in einem krassen Gegensatz zur christlichen Deutung des Todes steht. Aus diesem mittelalterlichen, von der Pest hervorgerufenen Szenario aber entwickelte sich gleich einem Phoenix aus der Asche die Verwandlung oder Erneuerung Europas. So jedenfalls sah es David Herlihy.

Was verbarg sich also hinter der Maske des "Schwarzen Todes"? War es tatsächlich der vom Rattenfloh übertragene Erreger der Beulenpest, wie vielfach angenommen? Mit detektivischem Spürsinn versucht der us-amerikanische Historiker David Herlihy (1930-1991), dieser Frage nachzugehen. Drei Essays beinhaltet der Text dieser Buchausgabe, drei Essays, die Herlihy 1985 als Vorlesungen an der University of Maine gehalten hat, und die 1997 posthum zum ersten Mal veröffentlicht wurden. Die deutsche Übersetzung erschien bereits ein Jahr später, und nun kommt der Wagenbach Verlag mit einer Neuauflage heraus.

"Beulenpest: Historische Epidemiologie und die medizinischen Probleme." So ist der erste dieser drei Essays überschrieben. Es geht hier vornehmlich um die Frage: Was war der schwarze Tod wirklich? David Herlihy trägt Indizien zusammen für seine These, dass es vermutlich gar nicht die Beulenpest gewesen ist, die für das große Sterben um 1348 verantwortlich war. Und nachdem er allgemeinverständlich die wichtigsten medizinischen Fakten zum Thema Pest dargelegt hat, gelangt Herlihy schließlich zu der Erkenntnis, dass die wahre Natur dieser schrecklichen mittelalterlichen Epidemie für immer im Dunkeln bleiben muss, dass der oder die Erreger von damals medizinisch nicht mehr identifiziert werden können. Vor allem leugnet Herlihy, dass ökonomische Gegebenheiten wie beispielsweise eine Hungersnot zur Ausbreitung der Seuchen des 14. Jahrhunderts beigetragen haben. Neuere medizinische Studien scheinen auch zu belegen, dass Unterernährung die Widerstandskraft stärkt und sogar vorbeugend gegen Infektionen wirken kann. Und David Herlihy sieht in Aids, der Seuche unserer heutigen Zeit, eine deutliche Parallele zu den Epidemien des 14. Jahrhunderts.

In seiner zweiten Vorlesung, überschrieben mit "Das neue ökonomisch-demographische System", kommt Herlihy auf die Konsequenzen zu sprechen, die sich für Europa nach dem Wüten des "Schwarzen Todes" ergeben haben, zu dem, was er "die Verwandlung Europas" nennt. Als wichtigsten Punkt in diesem Zusammenhang glaubt er in der Dezimierung der europäischen Bevölkerung den Auslöser für den Siegeszug der Technik zu erkennen. Der technische Fortschritt, einhergehend mit einem höheren Lebensstandard für weite Teile der Bevölkerung, als unmittelbare Folge von Epidemien? Als Begründung führt David Herlihy an, dass der durch die Seuche hervorgerufene Mangel an Arbeitskräften es erforderlich machte, neue arbeitskraftsparende Geräte, also technische Innovationen, zu entwickeln.

In "Denken und Fühlen", dem dritten und letzten Essay der Vorlesungsreihe, geht es dann um die sozio-kulturellen Auswirkungen des "Schwarzen Todes". Kurzfristige Folge der Pest war nach Herlihy vor allem eine Entzweiung der Gesellschaft in Gesunde und Kranke, und dann, was sich auch langfristig fortsetzen sollte, die Abspaltung kultureller Minderheiten wie beispielsweise der Juden oder ganz allgemein der Fremden vom Hauptstrom der Gesellschaft. Die Zuweisung des Schwarzen Peters, das Hineindrängen in die Rolle des Sündenbocks wurde also schon damals praktiziert, und die Legende von den Juden als Brunnenvergiftern nahm wohl hier ihren Ursprung. Die Seuchen des Mittelalters führten demnach dazu, dass in Europa die Saat der Fremdenfeindlichkeit heranreifte und auch aufging. Dies waren also laut Herlihy entscheidende soziale und kulturelle Folgen des "Schwarzen Todes".

In seinem ausführlichen Nachwort beleuchtet Samuel K. Cohn, Jr. die Thesen David Herlihys noch einmal aus kritischer Distanz und gibt eine Zusammenfassung der Problematik aus heutiger Sicht. Er führt dem Leser die Einwände vor Augen, die eben aus unserer heutigen fortgeschrittenen Perspektive von Forschern gegen Herlihys teilweise provokante Thesen vorgebracht werden. Und er erläutert auch, dass Herlihy zwanzig Jahre zuvor noch von einem ganz anderen Ansatz zur Erklärung der Pestepidemie ausgegangen ist als in seinen hier publizierten Vorlesungen. Der Autor hat also einen Sinneswandel durchgemacht, der vermutlich auch zum Teil mit dem weltweiten Ausbrechen der Aids-Epidemie in Verbindung gebracht werden kann.

Alles in allem ist David Herlihys "Der schwarze Tod und die Verwandlung Europas" eine recht interessante, interdisziplinäre wissenschaftliche Abhandlung. Lesenswert!

(Werner Fletcher; 10/2007)


David Herlihy: "Der schwarze Tod und die Verwandlung Europas"
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Samuel K. Cohn, Jr.
Übersetzt von Holger Fliessbach.
Verlag Klaus Wagenbach, 2007. 142 Seiten mit vielen Abbildungen.
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David Herlihy, 1930 geboren, lehrte Geschichte zunächst in Wisconsin, danach in Harvard und zuletzt an der Brown University in Providence. Er war Präsident der American Historical Association und Träger zahlreicher internationaler Auszeichnungen. David Herlihy starb 1991.

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