Raoul Schrott: "Die Erfindung der Poesie"

Gedichte aus den ersten viertausend Jahren


Ein Spracharchäologe in seinem vielstimmigen Element

Er|fin|dung, die; -, -en:
1.
a) <o. Pl.> das Erfinden (1)
b) etwas Erfundenes, neu Hervorgebrachtes
2. etwas, was ausgedacht ist, nicht auf Wahrheit 
oder Realität beruht
Po|e|sie, die; -, -n [frz. poésie < lat. poesis < griech. poíesis = das Dichten; Dichtkunst, eigtl. = das Verfertigen [...])n = dichten, eigentlich verfertigen] (bildungsspr.):
1. <o. Pl.> Dichtung als Kunstgattung; Dichtkunst
2. Dichtung als sprachliches Kunstwerk
3. <o. Pl.> poetischer Stimmungsgehalt, Zauber

(Quelle: Großer Duden; Auszüge)

Raoul Schrott hat sich folgender Schwerpunkte angenommen:
Enheduanna, Ilummiya und die sumerische Literatur (24. Jahrhundert v. Chr.), Archilochos (7. Jahrhundert v. Chr.), Sappho (7. / 6. Jahrhundert v. Chr.), Gaius Valerius Catullus (Anfang des 1. Jahrhunderts v. Chr.), Sextus Propertius und die Elegie (Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr.), die Mo'allaqat - Imru'l-Qays / Tarafah / 'Antarah / 'Amr ibn Kultum / Labid (6. / 7.  Jahrhundert), Abu Nuwas (8. Jahrhundert), Die Marginalien der irischen Mönche (9. Jahrhundert), Samuel Ha-Nagid ibn Nagrilla und die hebräische Poesie (11.  Jahrhundert), Die arabischen Dichter Siziliens - Mohammed ibn alQuatta' / Ibn at-Tubi / Abu 'Ali al-Husayn / Abu l-Qasim 'Abd ar-Rahman / 'Abd al-Aziz al-Ballanubi / 'Ali al Ballanubi (11. Jahrhundert), Guihelm IX., Graf von Poitiers und Herzog von Aquitanien (11. / 12.  Jahrhundert), Giacomo da Lentino oder von der Erfindung des Sonetts (13. Jahrhundert), Dafydd ap Gwilym und die walisische Poesie (14. Jahrhundert).

Man weiß also mit einiger Sicherheit, wer wann wo Poesie verfasst hat, wobei die in diesem Band Versammelten selbstverständlich lediglich eine Auswahl aus der Fülle der Verseschmiede darstellt. Aber wie kam der Mensch zur Poesie?
In seinem bei aller Kürze hochinteressanten Vorwort zieht Raoul Schrott sozusagen eine Bilanz der Poesie, vermittelt seine Beweggründe, ebendiese Anthologie in ebendieser Form unter ebendiesem Titel zu Papier gebracht zu haben und bezieht Stellung innerhalb des dichterischen Bestandes und Vermächtnisses, auch längst versunkener Kulturen, wobei er gleichfalls die über die Jahrhunderte im Wandel begriffene Bedeutung des Genres "Dichtung" und der "Erfinder" erläutert.
Ebenso, wie es darum ging, die unter dem Sand der Zeit und dem Staub gespreizter Übersetzungen aus früheren Jahrhunderten verschütteten Texte ans Tageslicht zu bringen, war auch von Bedeutung, diese in neuem Glanz erstrahlen zu lassen, sie also in eine nach gegenwärtigem Ermessen verständliche Sprache zu bringen. Das Spannungsfeld wird im selben Moment sichtbar: Die bisweilen aus dem verantwortungsvollen Prozedere resultierende und von manchen Lesern hier und da wohl nicht völlig zu Unrecht kritisierte Unschärfe, was die akademisch geforderte "Exaktheit" der Übersetzungen anbelangt, trägt umgekehrt zur Urkraft, ungetrübten Frische und unmittelbaren Zugänglichkeit der eingedeutschten Poesie bei. Nicht zufällig, aber doch auch willkürlich hat Raoul Schrott eine diesen inhaltlichen Bestrebungen entsprechende Auswahl getroffen; es blieben weiße Flecken innerhalb dieser "ersten viertausend Jahre" erhalten.
Übersetzungen sind nun einmal bis zu einem gewissen Grad Kompromisse, maßgeblich gefärbt durch den Übersetzer. Zumal dieser im gegenständlichen Fall Raoul Schrott heißt, also der Zugang zur Sprache bei aller gebotenen Ernsthaftigkeit bewusst kein ausschließlich zwangsweise akademisch-blutleerer, sondern ein lustvoller, kreativer war und ist, befanden sich die bejahrten Augenblickskonserven in denkbar guten Händen. So blieb beispielsweise Deftiges hautnah-konkret, Unzweideutiges behielt die beabsichtigte Schräglage, Mehrdeutigkeiten wurden nicht eingeebnet, nichts wurde in schmeichlerischer Absicht verfälscht oder gar sprachweichgespült. Funktionstüchtigkeit anstelle starrer Rekonstruktion, Inhalt vor Form. Die Eichung des Augenblicks. Schrott beschließt, auf die Problematik der textgerechten Übertragung eingehend, das Vorwort mit dem entschlossenen Satz: "Der Rest ist Pedanterie, nicht Poesie."

Sodann findet man sich - literarisch - weit zurück, nämlich in das 24. Jahrhundert v. Chr., versetzt. Die Entstehung unterschiedlicher Zeichensysteme (z. B. Hieroglyphen, Keilschrift) wird kurz nichtsdestoweniger konzentriert umrissen, die Merkmale der überlieferten Texte werden kommentiert, ihre "Erfinder" in kreativ-ausgeschmückter (wandelt Raoul Schrott als "Erfinder" gar in Münchhausens Fußstapfen?) Art und Weise vorgestellt und in einem lebendig beschriebenen kulturhistorischen Umfeld verortet. "Die Erhöhung der Inanna" ist somit der erste Text, der sich dem Leser auf Grundlage der von Raoul Schrott vorangestellten Informationen erschließt.
Die weiteren Abschnitte folgen diesem Schema. Es würde freilich den Rahmen dieser Rezension sprengen, Details des Bandes zu enthüllen - die Ausführungen Raoul Schrotts sind im Original einfach am besten. Warum auch immer, er hat am Ende eines jeden Abschnitts akribisch vermerkt, wann und wo dieser entstanden ist. Ein Zeit-Weg-Diagramm der besonderen Art könnte so entstehen.

Doch genug des Beschreibens, lassen wir einige Poeten in der Sprache Raoul Schrotts zu Wort kommen; den Reigen der Kostproben eröffnet Archilochos:
"Mit dir zu kämpfen dazu habe ich lust / wie man wasser schluckt gegen den durst"
Sappho:
"Und wieder Eros der mich bittersüß / beugt und biegt dass ich mich winde / wie eine schlange die man nicht fängt"
Catull:
"Ich werd's euch zwei besorgen von vorne und von hinten / Aurelius du schwanzlutscher und deinen arschficker Furius / wenn ihr nach meinen gedichten meint ich wär wie ihr - / so verweichlicht und vielleicht auch noch so unverschämt / Was die pietät betrifft geht sie nur einen poeten selber an (...)"
"Ich hasse und ich liebe · warum fragst du vielleicht / ich weiß es nicht ich fühl's · es kreuzigt mich"
Imru'l-Qays:
"(...) Ihre hände sind weich sie wissen wie man gibt und wie man nimmt / und streichen über die haut die finger flink wie käfer / im sand unter den zweigen der tamarisken und den reisern des ishil (...)"
'Antarah:
"(...) Nachdem die glut des mittags sich legte trank ich meinen wein / alten wein aus einem schön verzierten krug / den ich durch ein tuch in ein kostbar verziertes glas seihen ließ - / das trinken kostet mich mein ganzes geld / aber so behalte ich wenigstens meinen guten ruf und namen (...)"
Labid:
"(...) Wir leben nicht nur in den tag und denken dabei nicht nur an uns / wir handeln sehr besonnen und halten maß / Beneid uns nicht sondern gib dich damit zufrieden was der Herr / dir verlieh - er weiß genau was er wem und warum gibt (...)"
Abu Nuwas:
"Ich ziehe die knaben den jungen mädchen vor / und alten wein dem klaren kalten wasser - / weit ab vom rechten weg wählte ich die sünde / ohne umstände und genauso unumwunden / hab ich meinem pferd die zügel abgenommen / die zwei steigbügel und das zaumzeug / und mich verliebt in einen jungen Perser, der das arabische nur so massakriert - / ich nenn ihn mein kokettes kälbchen mein reh / sein spiegel hell wie mondenschein (...)"
Samuel Ha-Nagid:
"Der krieg ist zuerst ein schönes mädchen / mit ihr will jeder gern ins bett steigen / zuletzt aber eine hässliche alte / um die nur krankheit und tod mehr freien"
Dafydd ap Gwilym:
"(...) Der katzbucklerische kuttenbrunzer stottert / jedes wort mühsam ausm steifen maul: / schimpft sich dichter der damische hanswurst / der schmalzige schmierfink und pimperlpoet (...)"
Ein Buch, das wohldosiert genossen sein will.

(kre; 10/2003)


Raoul Schrott: "Die Erfindung der Poesie"
dtv, 2003. 531 Seiten.
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Hörbuch:
Auf drei CDs erzählt Raoul Schrott über die Erfindung der Poesie und liest Gedichte in der Übertragung und der Originalsprache. Aufgenommen in der Hörspielabteilung des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Herbert Kapfer und der Regie von Klaus Buhlert.
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Raoul Schrott wurde 1964 auf einer Schiffsreise zwischen Brasilien und Europa geboren. Er wuchs in Tunis und Zürich auf, studierte Literatur- und Sprachwissenschaft in Norwich, Paris, Berlin und Innsbruck und war 1986-87 Sekretär Philippe Soupaults. Von 1990 bis 1993 war er als Lektor der Germanistik am Istituto Orientale von Neapel beschäftigt. 1996 habilitierte er am Institut für Komparatistik in Innsbruck.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe"

Wer war Homer wirklich? Raoul Schrott ist bei der Arbeit an seiner "Ilias"-Übersetzung auf eine Sensation gestoßen: Der Schauplatz der Ilias ist nicht Troia, sondern Kilikien. Diese These legt er in seiner großen Studie "Homers Heimat" mit einer Fülle von Daten, Fakten, Belegen und Indizien vor - und das erste Mal seit über 2500 Jahren wird nicht nur der zeitgenössische Hintergrund der Ilias rekonstruiert, sondern auch die Person Homer und ihre Herkunft erkennbar gemacht. Schrott hat die kilikischen Hintergründe für die Götter und Heldenfiguren der Ilias erforscht; die kilikische Landschaft bereist; die Realgeschichte wiedergefunden, die Homer in den alten Troiastoff projiziert, und die historischen Vorbilder für unsterbliche Figuren wie Paris, Helena, Hektor, Achilleus und Priamos. (Hanser)
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"Das schweigende Kind" zur Rezension ...
Eine literarische Beichte? (Hanser)

Hierzu noch ein Buchtipp:

Joachim Latacz, Thierry Greub, Peter Blome, Alfried Wieczorek (Hrsg.): "Homer. Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst"

Die Bedeutung des griechischen Dichters Homer für die Kultur des Abendlandes ist unermesslich. Die Themenkreise und Figuren seiner beiden großen Epen, "Ilias" und "Odyssee", sind als allgemeinmenschlicher Mythenschatz seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. in sämtlichen Epochen der Kunst- und Literaturgeschichte gegenwärtig.
Am Anfang der europäischen Literatur stehen die Hexameter des Homer. In ihnen wird vom Kampf um Troia und der abenteuerlichen Heimkehr des Helden Odysseus berichtet. Homer legt in der Vielzahl seiner Charaktere die Grundlagen zu einem literarisch und bildkünstlerisch fruchtbaren Spektrum der Wesensmerkmale und Verhaltensmuster des Menschen - selbst dort, wo er sie an seinen oft nur allzu menschlichen Götterfiguren exemplifiziert. Die typenbildende Kraft seines Doppelwerks ist eine Konstante in den Künsten des abendländischen Kulturkreises.
Dieser Katalog zu einer Ausstellung stellt Homer in seiner Zeit und mit seinen Werken vor, insbesondere deren Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von der Antike bis heute. Gezeigt werden mehr als 250 Kunstwerke aller Gattungen aus vier Jahrtausenden - vom mykenischen bronzezeitlichen Griechenland bis heute -, die aus den Sammlungen der großen europäischen Museen als Leihgabe zur Verfügung gestellt werden.
Das Buch versucht, auf Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse die historische Person des Dichters aus den Legenden um seine Existenz herauszuschälen und sein dichterisches Schaffen und die Einheit seines Werkes einem breiteren Publikum vorzustellen. Auch zeigt es die gewaltige Wirkung seines Schaffens, das bis in den alltäglichen Sprachgebrauch hinein in unserer Welt gegenwärtig ist. 31 Beiträge von namhaften Autoren geben in dem reich bebilderten Katalog Auskunft über den aktuellen Stand der Forschung und die erlesene Auswahl repräsentativer Kunstwerke von höchstem Rang. (Hirmer Verlag)
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"Die Fünfte Welt. Ein Logbuch"

Raoul Schrotts Logbuch einer faszinierenden Reise zum letzten weißen Flecken dieser Welt:
Den letzten weißen Fleck im Atlas der Erde zu beschreiben, die höchstwahrscheinlich letzte noch unentdeckte Region dieser Welt zu bereisen - das ist hier keine literarische Fiktion.
Zusammen mit einer wissenschaftlichen Expedition hat Raoul Schrott sich in diesen entlegensten aller Orte im Länderdreieck von Tschad, Sudan und Libyen aufgemacht. Entstanden ist das Logbuch dieser Reise, die von der Millionenstadt NDjamena über das Ennedi, eine der schönsten Landschaften dieser Erde in das Feindland der Erdis führte und schließlich zum letzten Außenposten der Zivilisation vor dem Nichts: dem verlassenen Fremdenlegionärsfort Agoza.
Es ist dies ein Bericht über unvorstellbare Armut, humanitäre Katastrophen und politische Putschversuche, den ungleichen Handel zwischen Europa und Afrika - aber auch die Erzählung einer Reise ins Nirgendwo, zu einer Mitte der Welt und zum eigenen Selbst.
Durch Fotos und Abbildungen erweitert, ist "Die Fünfte Welt" ein poetisches Dokument über die Rätselhaftigkeit alles Entlegenen. (haymonverlag)
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"Tropen. Über das Erhabene"
Die Zeit ist gegen die Lyrik? Raoul Schrott beweist das Gegenteil. Tropen sind Gedichte für Leser: neu und traditionsbewusst, gelehrt und respektlos, dem Exotischen so offen wie dem Allernächsten, der Wissenschaft ebenso wie der Natur. Gedichte auf der Höhe der Zeit.
Raoul Schrotts Passion ist es, die verlorene Einheit von Poesie und Wissenschaft wiederzufinden. In weit ausgreifenden, erzählenden Gedichten konfrontiert er Naturphänomene mit dichterischen Bildern, bis der Leser entdeckt, dass in einem physikalischen Phänomen oft ein poetischer Sonnenaufgang steckt, der uns lehrt, die Welt neu zu sehen.
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"Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde"
Eine winzige Insel im Ozean als Brennpunkt der Sehnsucht von vier Menschen: drei Männer und eine Frau, deren Leben und Liebesgeschichten bestimmt werden von dem entlegensten Ort der Welt. Noomi Morholt, südafrikanische Wissenschaftlerin, Edwin Heron Dodgson, Priester und Bruder des berühmten Lewis Carroll; Christian Reval, Kartograph, und Mark Thompson, Briefmarkensammler: ein großer, vieldimensionaler Roman, eine zeitlose Geschichte unstillbarer Passionen und Obsessionen. Der Roman der Sehnsucht.
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Arthur Jacobs, Raoul Schrott: "Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren"
Warum können wir uns beim Lesen so in ein Buch vertiefen, dass wir die Welt um uns vergessen? Warum gehen uns Reime ein Leben lang durch den Kopf, und warum schlagen Metaphern manchmal ein wie der Blitz? 
Raoul Schrott hat auf der Suche nach dem Geheimnis des Gedichts die neuesten Spuren der Biologie und Wissenschaft aufgenommen. Zusammen mit Arthur Jacobs zeigt er, wie sich in elementaren literarischen Stilmitteln neuronale Prozesse erkennen lassen. Anhand vieler Beispiele aus unterschiedlichsten Epochen führt er uns vor, wie wir denken, warum wir es so tun, wie wir es tun, und wie daraus Dichtung entsteht.
Raoul Schrott, 1964 geboren, wuchs in Tunis und Landeck / Österreich auf. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.A. den "Mainzer Stadtschreiber-Preis" und den "Joseph-Breitbach-Preis" (beide 2004). Bei Hanser erschienen u.A: "Gilgamesh" (Epos, 2001), der Roman "Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde" (2003), "Homers Heimat" (Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe, 2008), die Neuübertragung der "Ilias" (2008) und zuletzt "Die Blüte des nackten Körpers" (Liebesgedichte aus dem Alten Ägypten, 2010). Raoul Schrott lebt in Österreich. (Hanser)

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