Bernhard Schlink: "Der Vorleser"


Ein fünfzehnjähriger Schüler läuft in misslicher Lage einer um die zwanzig Jahre älteren Frau in die Arme und wird ihr Liebhaber. Die Liebe entwickelt sich unglücklich, denn die zuweilen launische und herrische Hanna bleibt gegenüber ihrem jugendlichen Liebhaber auf seltsame Weise distanziert. Es ist als ob sie ein Geheimnis vor ihm hütet, dessen Bewahrung zuviel Intimität versagt und letztlich einen völligen Bruch mit ihm verlangt.

So kommt es, dass Hanna eines Tages "nach unbekannt verzogen" ist. Dem jungen Michael Berg, so heißt ihr Geliebter, bleibt nur die Sehnsucht nach ihrem Körper und ein diffuses Schuldgefühl, demnach er sich in der Öffentlichkeit zu wenig entschieden zu ihr bekannt hätte. Weniger erinnert er sich in diesen Momenten des Abschieds an die vielen Stunden, in denen er ihr aus Büchern vorgelesen hatte, weil sie ihn darum bat. Ihr plötzliches Verschwinden bleibt ihm vorerst ebenso rätselhaft, wie es ihrem Dienstgeber ein Rätsel ist, dass die Schaffnerin Hanna Schmitz einfach grundlos kündigt, obwohl man ihr erst kürzlich angeboten hat, sie zur Fahrerin auszubilden.

Einige Jahre später sieht der Jus-Student Michael Berg seine Hanna im Gerichtssaal wieder, auf der Anklagebank in einem KZ-Prozess. Er empfindet nichts mehr für sie. Ein handgeschriebener Bericht, der dem Vernehmen nach von ihr verfasst worden sei, belastet Hanna schwer. Hanna stellt zuerst in Abrede den Bericht geschrieben zu haben. Nachdem der Staatsanwalt vorschlägt, einen Sachverständigen die Schrift des Berichts und die Schrift der Angeklagten Schmitz miteinander vergleichen zu lassen, gibt Hanna überraschend zu, den Bericht geschrieben zu haben. Sie bekommt lebenslänglich.

Wie die Geschichte sodann weitergeht, möchte ich nicht verraten. Es sei nur so viel verraten, dass Michael Berg am Geständnis wie an der Schuld Hannas aus gutem Grund zweifelt. Hanna hat ihr Leben lang ein - ihr peinliches - Geheimnis zu hüten, eine verborgene Minderwertigkeit, die ihr insgeheim anhaftet. Sie akzeptiert, dass sie im Prozess für ihre Tätigkeit als Aufseherin in Auschwitz zur Rechenschaft gezogen wird und will nur nicht überdies bloßgestellt werden. Sohin nimmt sie lieber Gefängnisjahre in kauf, als dass sie ihre Selbstdarstellung in aller Öffentlichkeit bloßstellt.

Bernhard Schlink thematisiert auf ungemein einfühlsame Weise die Scham, die das Menschenleben verkümmert, dem insgeheim eine außerordentliche Minderwertigkeit anhaftet, oder das vermeint, eine außerordentliche Minderwertigkeit würde ihm anhaften. Die ständige Angst vor der Bloßstellung im sozialen Geflecht entwendet dem Lebensvollzug seine eigentümliche Wahrhaftigkeit im Ausdruck und seine Leichtigkeit im sozialen Umgang. An die Stelle spontaner Selbstdarstellung tritt so nur allzu oft störrische Selbstentstellung und eine nervöse eigenbrötlerische Praxis der sozialen Distanzierung. Zugleich entwickelt sich im betroffenen Menschen ein starkes Streben danach, das Merkmal seiner Minderwertigkeit zu kompensieren.
Im Letzteren liegt die Chance, im Ersteren die Gefahr. Wir wundern uns heute zuweilen über den erstaunlichen Erfolg von gesellschaftlichen Randkulturen, deren Mitgliedern unsichtbare Merkmale anhaften, die sie in den Augen der Mehrheit immer noch mit dem Stigma der Minderwertigkeit belegen. So haben Juden und Schwule einen Beitrag zur Höherentwicklung unserer Kultur geleistet, der weit über ihren proportionalen Anteil an der Bevölkerungszahl hinausreicht. Mag es die Folge ihrer Stigmatisierung sein, die man ihnen äußerlich nicht ansieht und die sie mit besonderer Anstrengung zu kompensieren trachten?

Wenn ich diese Frage formuliere, ist mir ihre Tragweite sehr wohl bewusst, die solcherart die Stigmatisierung von merkmalsspezifischen Minderheiten ins Positive wendet. Dass Stigmatisierung innovative Energien mobilisiert, was in Einzelfällen zur Genialität gereicht, die uns alle als Kulturnation erhöht, sollte unsere Ehrerbietung für Minderheiten gleich welcher Art fördern und zugleich zu bedenken geben, dass nebst den Erfolgreichen unter diesen auch gar zu viele der ihren an dem Stigma ihrer Minderwertigkeit - die tatsächlich nur eine banale Andersartigkeit, eine bloße Differenz zur Normalität der Mehrheit ist - zerbrechen. Sie finden aus Scham nie zu sich selbst und führen eine Existenz im Verborgenen, die sie in kritischen Situationen aus Angst vor Bloßstellung in tödliche Abgründe springen lässt.

Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser" ist nicht nur der beklemmende Roman einer grausamen Liebe, den man, einmal begonnen, nicht aus der Hand legen wird, sondern er ist für mich insbesondere der Roman, der sensibilisiert für die verborgene Scham und den sozialen Stress jener Mitmenschen, die insgeheim von der wertenden und entwertenden Normalität der Mehrheitsmenschen abweichen.

Sie sollten dieses Buch gelesen haben.

(haschu; 08/2001)


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