Rafik Schami: "Die dunkle Seite der Liebe"

Eine Frau liebte einen Mann der eine große Warze auf der Nase hatte. Sie hielt ihn für den schönsten Mann auf Erden. Jahre später fiel ihr aber eines Morgens die Warze auf. "Seit wann hast du diese hässliche Warze auf der Nase?", fragte sie. "Seitdem du mich nicht mehr liebst", antwortete der Mann traurig.


Mit "Die dunkle Seite der Liebe" ist Rafik Schami ein grandioses Epos gelungen, das gleichzeitig ein hervorragendes Sittenbild Syriens über ein ganzes Jahrhundert darstellt. Dieser Roman ist vergleichbar mit einem Zauberkasten. Erst einmal geöffnet, entführt er den Leser tief in die arabische Welt, wo Blutrache und Sippenhaftung an der Tagesordnung stehen und Versöhnung ein Fremdwort bedeutet. Wenn Rafik Schami erzählt, vermag er zu berauschen. Er verführt mit allen Spielarten der menschlichen Tragikomödie und erzählt von Liebe und Ehrgeiz, Hass und Demut, Geschäftstüchtigkeit und Ruin.

Am Beginn steht das Jahr 1953 und eine Liebesgeschichte unter Halbwüchsigen, wie sie überall auf der Welt vorkommt. Doch in einem Land wie Syrien entscheidet vor allem die Religionszugehörigkeit, ob eine Liebe zum Scheitern verurteilt ist und unter Umständen sogar tödlich enden kann. Bei einem Schulkameraden lernen sich der 15-jährige Farid und die gleichaltrige Rana kennen und lieben. Vorsichtig betasten sie einander mit Worten, versuchen zu erkunden, wo sie in Damaskus leben, was viel über die religiöse Herkunft aussagen kann. Schon Jugendlichen ist vollkommen klar, dass unlösbare Konflikte auf sie warten, wenn sich ihr Herz falsch entscheidet. Überglücklich erkennen die Beiden, dass sie Christen sind. Für einen kurzen Moment berühren sich ihre Hände und die Erde hört auf sich zu drehen und die Welt wird zu einem unendlichen Raum der Ruhe.
Doch bald wird den Jugendlichen klar, dass Christ-Sein als Bedingung für ungestörtes Liebesglück nicht ausreicht. Speziell dann nicht, wenn die eigenen Wurzeln in Mala liegen, einem Gebirgsdorf, wo Tradition und Familienehre an erster Stelle stehen. Voller Entsetzen erkennen die Beiden, dass sie aus zwei Familien entstammen, die seit Jahrzehnten in erbitterter Feindschaft leben. Die unterschiedliche Religion - die einen sind griechisch-orthodox, die anderen römisch-katholisch - dient nur als Vorwand. Der wahre Grund der Feindschaft sind ökonomische und politische Machtansprüche.
Doch es wäre nicht Arabien, wenn nicht neben oder sogar über der Religion das Haupthindernis die Sippe, der Clan darstellen würde. Sippengeschichte ist Sozial- , Wirtschafts- und Staatsgeschichte, denn überall hat die Sippe Vorrang vor allen anderen Formationen. Selbstverwirklichung steht dabei überhaupt nicht zur Debatte, weder für Farid und Rana noch für alle Angehörigen ihrer Sippe in den vorangegangenen Epochen.

Rafik Schami gelingt mit diesem Roman ein grandioses Sippenbild, das durch Sinnlichkeit, Angst, Brutalität, Liebe und orientalische Weisheit fasziniert. Die bilderreiche Sprache lässt Damaskus vor den Augen des Lesers entstehen und macht die große Liebe des Autors zu seiner Stadt spürbar. Die vitale und lebensbejahende Kraft der Protagonisten fasziniert, und voller Entsetzen registriert man die Fähigkeit der Sippen, Brudermörder leichter zu integrieren als Abtrünnige aus Liebe. Immer wieder steht die Ehre als eines der wichtigsten Güter im Mittelpunkt und ist Ursprung vieler Fehden und Auseinandersetzungen.
"Die dunkle Seite der Liebe" ist ein Roman wie ein Mosaik, das mit jedem Kapitel bunter und farbenfroher wird. Eingerahmt vom Trennungs- und Liebesdrama Ranas und Farids spannt der Autor einen weiten Bogen über ein Jahrhundert syrischer Geschichte. Rück- und Überblendungen zu den Lebensgeschichten von Eltern, Großeltern, Onkeln und Tanten machen das Bild immer bunter, vielschichtiger und geben Auskunft darüber, warum es einem Volk nicht gelingt, zur Ruhe zu kommen. Ein Roman mit einer kolossalen Kraft, die den Leser mitreißt und verzaubert.

(Margarete Wais; 09/2004)


Rafik Schami: "Die dunkle Seite der Liebe"
Hanser, 2004. 864 Seiten.
ISBN 3-446-20536-5.
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Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus/Syrien geboren. 1965 bis 1970 Gründung und Leitung der Wandzeitung "Al-Muntalek" im alten Stadtviertel von Damaskus. 1971 wanderte er in die Bundesrepublik Deutschland aus, bis 1979 arbeitete Rafik Schami in Fabriken und als Aushilfskraft in Kaufhäusern, Restaurants und Baustellen und studierte Chemie (1979 Promotion). 1971 bis 1977 Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien in arabischer und deutscher Sprache; seit 1982 freier Schriftsteller.

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