Serena Vitale: "Der Eispalast. Zwanzig Geschichten aus Russland"

"Europa wird uns entdecken, wie es einst Amerika entdeckt hat."
(Fjodor Dostojewski)


Obiges Zitat des vielleicht größten russischen Dichters ist dem Buch vorangestellt. Es handelt sich um eine Ankündigung, von der der Leser nur hoffen kann, dass sie sich erfüllt. In Italien haben die zwanzig russischen Geschichten sehr viel positive Kritik geerntet. Ansonsten handelt es sich um einen Insidertipp, sollte dieses Buch empfohlen werden.

Es ist bei einem Erzählband nie leicht, ein allgemeines Urteil zu fällen. Die Geschichten sind stets verschieden, es gibt schwächere und stärkere, ansprechende und weniger ansprechende. Die Qualität der in diesem Buch versammelten Geschichten schwankt kaum. Dadurch kann der Eindruck eines Kreises entstehen, durch den ein wichtiger Ausschnitt der russischen Geschichte dargestellt wird. Es handelt sich durchwegs um Erzählungen, in denen kaum Dialoge stattfinden; also tatsächlich das reine Erzählelement überwiegt. Bei manchen Geschichten erzielt dies eine wunderbare Wirkung, da sie sehr fließend die vergangene Wirklichkeit abzubilden suchen. Insgesamt ist dieses Buch sehr leicht lesbar, und der Leser kann sich ein gutes Bild von den Gegebenheiten in Russland in den Zeiten, wo es noch den Zaren gab, und der Adel eine seltsame Bedeutung hatte, machen. Dabei spielen die Elemente Komik und Surrealismus die wichtigsten Rollen, da durch sie die Grausamkeit der Zeit sublimiert werden kann.

Stellvertretend für alle anderen Geschichten picke ich eine heraus, die einen besonderen Eindruck hinterlassen hat. "Saltytschicha", die Menschenfresserin, behandelt ihre Dienerschaft unheimlich brutal; im Laufe der Jahre kommen durch ihre eigene Hand oder auch durch Handlanger Dutzende von Dienstboten aller Art zu Tode. Die Methoden, die angewandt werden, spotten jeder Beschreibung. Unglaublich, dass diese Despotin und Massenmörderin lange Zeit unangetastet blieb. Erst recht spät wurde sie für ihre Taten belangt, und kam zur Strafe in ein dunkles Loch, wo sie etwa dreißig Jahre bis an ihr Ende verbrachte. Einzig ein Diener, der ihr einmal am Tag etwas zu essen und trinken brachte, sorgte für ein wenig Geselligkeit, die einmal sogar in einer Schwangerschaft ausartete.

Die Geschichte ist unheimlich spannend geschrieben, und zeigt auf eine groteske Weise, wie eklatant der Unterschied zwischen Arm und Reich in der russischen Gesellschaft gewesen ist. Tatsächlich nagte der sogenannte Pöbel am Hungertuch, und musste sich von den Reichen alles gefallen lassen.

Insgesamt können die Erzählungen als Parabel angesehen werden. Auch wenn die Ereignisse, die in ihnen geschildert werden, schon sehr weit zurückliegen, sind in ihnen doch all die Unglaublichkeiten angesiedelt, die heute noch die Gesellschaft prägen. Wobei geschrieben werden muss, dass die Schere zwischen Arm und Reich einstweilen viel stärkere Ausmaße angenommen hat. In Russland wurde gefoltert in allen erdenklichen Arten, die ich gar nicht schildern will, es wurden die Armen wie Abfall behandelt, und einzig und allein die Reichen hatten die Macht, ihr Leben selbst zu gestalten. Ich kann die Ereignisse des 11. September 2001 in dieser Hinsicht nicht übergehen. Denn eines lässt sich ganz klar sagen: Was an diesem Tag passierte, konnte nur passieren, weil die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander klafft. Es hat keinen Sinn, immer nur nach Schuldigen zu suchen, und angeblichen Engeln angebliche Teufel gegenüberzustellen. In Afghanistan sterben jeden Tag Kinder, wenn sie zur Schule gehen, weil sie in Tretminen steigen, die noch Überbleibsel von den sowjetischen Besatzungsgruppen sind. Und das ist nur die Spitze des Eisberges. Die Menschen haben den Horror zu einer Normalität auf dieser Welt gemacht. Wir alle können nur daran arbeiten, in unserem kleinen Bereich positives zu bewirken, und ein wenig Frieden und eine Atmosphäre der Toleranz zu schaffen. Zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind, zeigt das besprochene Buch zur Genüge. Aber es kann nicht sein, dass dies eine Regel ist, die als selbstverständlich betrachtet wird.

Abschließend teile ich noch mit, dass Serena Vitale eine Dame aus Italien ist, und mit ihrem Buch "Puschkins Knopf" für einiges Aufsehen gesorgt hat. Die eine oder andere der insgesamt zwanzig Geschichten aus Russland werden dem Leser sicher prägend in Erinnerung bleiben.

(hei)


Serena Vitale: "Der Eispalast. Zwanzig Geschichten aus Russland"
Berlin Verlag, 2001. 261 Seiten.
ISBN 3-8270-0388-1.
ca. EUR 19,-.
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