Marc Shapiro: "Joanne K. Rowling - Die Zauberin hinter Harry Potter"

Exzerpte aus dem Leben einer Ausnahmeautorin


Nicht der weise Erzmagier Albus Dumbledore hat seinem Zauberlehrling Harry Potter übermenschliche Fähigkeiten verliehen. Nein. Auch Harrys früh zu Tode gekommene Eltern Lily und James trugen weit weniger dazu bei als manch einer annehmen mag. Im Hintergrund zog und zieht eine englische Autorin geschickt die Fäden. Das Schicksal von mächtigen Basilisken, Drachen oder Greifen liegt ebenso in ihren Fingern wie jenes der pubertierenden Zauberzöglinge Harry, Hermione und Ron. Ihr Name: Joanne K. Rowling.

Traumgeburt im Bahnabteil
Dabei hat alles recht unspektakulär begonnen. Joanne sitzt als Pendlerin in der Eisenbahn von Manchester nach London King’s Cross. Irgendwann kommt der Zug zum Stehen, aus dem Lautsprecher dringt eine Durchsage über ein technisches Gebrechen. Da im Abteil wohl nichts Spannendes vor sich geht, beobachtet Mrs Rowling durchs Fensterglas eine grasende Kuhherde. Die Wege der Assoziation sind unergründlich, plötzlich nimmt das Magierepos um Harry Potter Gestalt an, das Grundgerüst vom zauberbegabten Waisenjungen und seiner Initiation in der Magierkaderschmiede Hogwarts steht. "Wenn man träumt, dann kann man machen, was man will", vertraute sie später dem Magazin "Newsweek" an. J.K. Rowling ist am Bahngleis dort angelangt, wo sie schon als Kind hinwollte, im Reich der Fantasie.

Die Potters von Winterbourne
Auch Joannes eigene Entstehung ist im weitesten Sinn der britischen Bahn zu verdanken. 1963 lernt der Flugzeugtechniker Peter im Zugswaggon die Laborantin Ann kennen - und wie in allen guten Märchen, die das reale Leben schreibt - bald auch lieben. Was den Arbeitersohn und die Bildungsbürgerin verbindet, ist das gemeinsame Faible fürs ländliche England bzw. für gute Bücher. Nach der Hochzeit lässt sich das Ehepaar Rowling in der Nähe von Bristol, im Örtchen mit dem Namen Chipping Sodbury, nieder. Am 31. Juli 1966 erblickt Joanne Kathleen Rowling (womit das Geheimnis der Mittelinitiale gelüftet wäre) im Sternbild des Löwen, der auch stolz vom Wappen des Hauses Gryffindor (dem Harry angehört) prangt, das Licht Britanniens. Schnell entwickelt die kleine JKR eine Vorliebe für das geschriebene Wort, weil "wir ein Haus voller Bücher hatten und meine Eltern mir dauernd was vorlasen", wie sie dieser Tage sagt. Im Alter von fünf übt sich Joanne vor ihrer jüngeren Schwester Di bereits im Fabulieren. Kurz nach dem sechsten Geburtstag schreibt sie ihre erste eigene Erzählung nieder. Der Inhalt: das Kaninchen Rabbit liegt mit den Masern im Bett und erhält Besuch von vielen guten Freunden sowie der Riesenbiene Miss Bee. Der Anfang ist gemacht. "The Seven Cursed Diamonds" ("Die sieben verfluchten Diamanten") wird zu Schulzeiten ihre erste wirkliche Kurzgeschichte.

Nach wenigen Jahren heißt es Abschied nehmen von Chipping Sodbury. JKR zieht mit ihrer Familie zuerst nach Yate, dann nach Winterbourne um. Dort verbringt sie viel Zeit mit ihren Freunden Ian und Vikki Potter. "Hexen und Zauber" soll das liebste Spiel der Drei gewesen sein. Lachend bekennt Joanne K. Rowling heute in einem Interview: "Der Name (Potter) hat mir schon immer gut gefallen."

Schuljahre einer Zauberin
Auch von Winterbourne und den Potters gibt es ein Lebwohl. Weiter geht es nach Tutshill. Als Neunjährige entdeckt JKR die Welt der James-Bond-Romane für sich. Aber schon bald kehrt sie Ian Flemings Superagenten den Rücken und widmet sich Jane Austen, ihrer heute noch "allerliebsten Autorin". Was Joanne an Tutshill hasst, ist die Primary School, die Grundschule, die sie dort besucht. Die Räume sind klein, eng, altmodisch, und Lehrerin Mrs Morgan jagt den Mädchen Angst und Schrecken ein. Ähnlichkeiten zu Harry Potters verhasstem Zaubertrank-Professor Severus Snape und dessen Unterrichtsstunden im Verlies treten zutage. Wenngleich Mrs Morgan das weniger explosive Fach Mathematik vorträgt. Wegen ihrer gering ausgeprägten Rechenkünste muss Joanne in der ersten Reihe rechts Platz nehmen, ganz am Rand. "Rechts von mir war nur noch der Pausenhof", schmunzelt sie heute. Die Sitzordnung nach Mrs Morgan unterliegt einem bestimmten Schema: links vorne die intelligentesten Schüler, tja, und rechts, die ihrer Meinung nach dümmsten. Durch emsiges Lernen schafft JKR am Ende des Schuljahres den Wechsel in die zweite Reihe links. Das Gymnasium absolviert die junge Ms Rowling alsdann in Wyedean, wo Englisch und Fremdsprachen zu persönlichen Stärken werden. Ihrem liebsten Hobby, dem Geschichtenschreiben, bleibt sie auch weiterhin treu. Sportliche Talente sind Joanne nicht zu eigen, sie erfährt aber schmerzlich am eigenen Leib, dass ein paar körperliche Fähigkeiten sehr von Nutzen sein können, um rauflustige Mitschülerinnen abzuschrecken. J.K. Rowling ist dieser Phase strebsam, wissbegierig und wehrhaft - ein Abbild von Hermione Granger, ihrer Lieblingsfigur im Potter-Zyklus. Nach der Schule folgt das Französisch-Studium an der Universität Exeter mit Praxisjahr in Paris.

Lektionen des Lebens
Joanne K. Rowling hat ihren Uniabschluss bald in der Tasche, finanziell lukrativ verwerten kann sie ihn aber nicht. Die Autorin in spe verdingt sich kurzzeitig als Mitarbeiterin von Amnesty International und nimmt Stellen als Sekretärin an. Diese Bürojobs verliert sie mit Regelmäßigkeit, da sie weit weniger von Sitzungen hält als vom Schreiben ihrer Geschichten. Immer wieder fallen ihr neue Erzählungen ein, stets fehlen ihr Konsequenz und Selbstbewusstsein, um das zu Papier Gebrachte an Verlage einzuschicken. Zu groß ist die Angst vor einer Ablehnung. Mit Mitte zwanzig ist JKR Angestellte der Industrie- und Handelskammer von Manchester. Während der bereits beschriebenen Fahrt nach London entspringt das Potter-Universum ihrer Imagination. Doch auch Harry und Kollegen müssen vorerst warten. Im Alter von nur 46 Jahren stirbt Joannes Mutter an Multipler Sklerose. JKR lässt daraufhin England hinter sich und übersiedelt nach Porto, wo sie eine Stelle als Englischlehrerin annimmt. Nachmittags und abends unterrichtet sie, der Morgen gehört der Schriftstellerei. Joanne feilt an der Pottergeschichte und verliebt sich in einen Kameramann des portugiesischen Fernsehens, dessen Namen sie bis heute geheim hält. Die beiden heiraten. Doch die Beziehung scheitert. Daran kann auch 1993 die Geburt des gemeinsamen Töchterchens Jessica nichts ändern. Es kommt zur Scheidung und JKR kehrt zurück nach Großbritannien, nach Edinburgh, in die Nähe ihrer Schwester Di. Sie bezieht eine schreckliche Mietswohnung und lebt samt Kind von der Sozialhilfe. Eines verregneten Tages liest sie Di Fragmente aus "Harry Potter" vor, um zu testen, wie ihr Werk ankommt. Di gilt Joanne seit ihrer beider Kindheit als wichtiger Qualitätsindikator. "Es ist durchaus möglich, dass ich alles weggeworfen hätte, wenn Di nicht gelacht hätte." Doch die jüngere Schwester ist von der Zaubergeschichte angetan. JKR fasst neues Selbstvertrauen und verbringt ihre Tage fortan schreibend in Nicholson’s Café (mittlerweile eine Pilgerstätte aller Potter-Fans). Mit der einen Hand schaukelt sie den Kinderwagen, mit der anderen lässt sie Seite um Seite entstehen. Dabei hat sie beim Inhalt des Romans nur ein Kriterium vor Augen: "Ich habe das Buch für mich geschrieben. Ich habe aufgeschrieben, was ich lustig fand, was mir gefiel", sagt Rowling später. Und 1997 in einem Interview: "Schreiben war für mich immer eine herrliche Zwangshandlung."

Der Rest der Geschichte ...
... ist ein Welterfolg. 1994 stellt Joanne ihren ersten "Harry Potter"-Band fertig, erhält ein Stipendium vom Scottish Arts Council und engagiert einen Literaturagenten. Anfangs gehen nur Ablehnungen ein. Die Geschichte sei zu lang bzw. zu langsam, heißt es. Doch 1996 findet Mrs Rowling endlich einen risikofreudigen Verleger. Bescheidene 2.000 Pfund Sterling erhält sie vom Verlag Bloomsbury für Opus eins aus dem Leben des Zauberlehrlings. Im nächsten Jahr debütiert Joanne mit "Harry Potter und der Stein der Weisen" ("Harry Potter and the Philosopher’s Stone") landesweit auf dem britischen Buchmarkt. Während der Buchmesse von Bologna werden kurz danach die Auslandsrechte für ihr Werk veräußert. Arthur A. Levine, der Boss von Scholastic, lizitiert am höchsten und erhält bei stattlichen 100.000 US-Dollars den Zuschlag für die nordamerikanische Edition der englischen Zauberersaga. Offensichtlich um die US-Leserschaft mit "Philosoph" im Titel nicht zu überfordern, geht das Buch als "Harry Potter and the Sorcerer’s Stone" über die Ladentische von New York bis Los Angeles. Wie schon in Großbritannien steht als Autor "J.K. Rowling" angegeben. Es herrscht das Marketingkalkül, ein Buch aus den zarten Fingern einer Frau könnte eher als Misserfolg enden als das aus der starken Feder eines Mannes. Diese sexistische Urangst bleibt letztlich unbegründet. Der "Stein der Weisen" gerät zum durchschlagenden Erfolg im angelsächsischen Raum. Joanne, mittlerweile als Frau preisgegeben, erhält zahlreiche Auszeichnungen, darunter auch "Kinderbuch des Jahres" bei den British Book Awards. Das Potter-Fieber grassiert bald in dreißig weiteren Ländern und im Juli 1998 folgt mit "Harry Potter und die Kammer des Schreckens" ("Harry Potter and the Chamber of Secrets") Band II des für sieben Bücher konzipierten Magierwerks. Ende desselben Jahres legt JKR - sehr zur Freude ihrer Verleger - mit Band III, "Harry Potter und der Gefangene von Askaban" ("Harry Potter and the Prisoner of Azkaban") literarisch nach. Ab dann ist es keine Seltenheit, dass die Bestsellerlisten großer Zeitungen oder Magazine von drei Potter-Büchern gleichzeitig angeführt werden. Zwölf Filmgesellschaften bemühen sich um die Zelluloidrechte, ehe Warner Bros. das Rennen macht. Joanne Kathleen Rowling genießt das unerwartete Leben im Wohlstand, bleibt aber überraschend sympathisch. Promotionsauftritte sind ihr eher unangenehm, den Kontakt hält sie vorzugsweise zu den jüngsten Leserinnen und Lesern.

Im Zeitalter von Harry, Hogwarts und Halloween
Was die 2000 (2002 in deutscher Übersetzung) erschienene Biografie über JKR natürlich ohne Präkognition oder Zuhilfenahme magischer Utensilien nicht abdrucken konnte, ist da Folgendes: Band IV ("Harry Potter und der Feuerkelch") und V ("
Harry Potter und der Orden des Phönix") im Zyklus rund um Harry, seine Verbündeten und Erzfeind Lord Voldemort sind längst erschienen. Band VI mit dem Titel "Harry Potter und der Halbblutprinz" heizt schon jetzt - lange vor der Veröffentlichung - hitzige Debatten über den Fortgang der Geschichte an. Die vierte Kinoepisode wird für November 2005 erwartet. Das altehrwürdige Christ Church College der Universität von Oxford öffnete seine Pforten für Potter-Filmdreharbeiten, am Bahnhof von King’s Cross wartet - dem wahren Fan zugedacht - ein Portal zum verzauberten "Gleis 9 3/4". Auf PC oder Playstation steht es jedem Rowling-Adepten frei, in den eigenen vier Wänden Hogwarts aufleben zu lassen oder den Besenritt im Quidditch zu wagen. Tja, und JKR selbst hat es geschafft, nach Königin Elizabeth II. zur reichsten Britin zu avancieren. Pfund, Dollar, Euro und Yen rollen wie die Galleonen, Sickels und Knuts der Bank von Gringotts. Kurzum, die Menschheit - zumindest der begüterte Teil davon - steht mitten im Zeitalter von Harry Potter und seinen Moritaten, den Weg erhellt von orange flackernden Kürbisköpfen zur Feier von Halloween, jener Nacht in die Barrieren von Dies- und Jenseits verschwimmen. Unscharf bleibt - wie von böser Zunge verwunschen - auch die Grenze zwischen Zauber und Zaster. Ohne die allzu geschmiert laufende Kommerzmaschinerie könnte die eingeweihte Leserschaft sich ohne Abstriche glücklich schätzen, die Entstehung eines literarischen Mythos persönlich mitzuerleben, so aber schwebt böse Vorahnung vom Flächenfluch des Mammon unheilvoll über den Regalen. Wohlan, wer glaubt, das Gute wird obsiegen, dem ist der Silberstreif am Horizont längst aus J.K. Rowlings Mund prophezeit: "Es wird keinen Harry Potter in der Mittlebenskrise oder Harry Potter als steinalten Zauberer geben" - und damit hört der schnöde Rubel zu rollen auf.

Ein Postskriptum zu Shapiros JKR-Biografie an sich: Wer tiefgründige Einblicke in das Leben einer Ausnahmeautorin erwartet, der wird sträflich enttäuscht. Der gewählte Schreibstil wirkt über weite Strecken oberflächlich und effekthaschend. Oft befällt einen die Befürchtung, ein Arztroman hätte sich in den eigenen Händen festgekrallt. Hinzu kommen Ungereimtheiten, so dass Prof. Snape plötzlich den Vornamen Severus für Septimus eintauschen muss. Am besten ist es wohl, vorerst vom Shapiro-Buch die Fakten herauszufiltern und auf eine liebevollere Rowling-Biografie zu warten.

(lostlobo; 10/2004)


Marc Shapiro: "Joanne K. Rowling - Die Zauberin hinter Harry Potter"
(Originaltitel "Joanne K. Rowling - The Wizard Behind Harry Potter")
Aus dem Englischen von Ulrike Seeberger.
Burgschmiet, 2002. 141 Seiten.
ISBN 3-933731-56-9.
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