Robin Le Poidevin: "Wie die Schildkröte Achilles besiegte oder Die Rätsel von Raum und Zeit"

Eine Reise an den Anfang und an das Ende von Raum und Zeit


"Der Realist ist insofern naiv, als er nicht zur Kenntnis nimmt, dass wir alle nicht in der Welt leben, sondern nur in dem Bild, das wir uns von der Welt machen." (Hoimar von Ditfurth)

Paradoxa oder Das Versagen der Logik

Raum und Zeit bilden den Rahmen, in dem sich unser Leben abspielt. Im Alltag glauben wir, dass es klar definierte Begriffe sind. Blicken wir tiefer, so treten Widersprüche zutage und wir laufen Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Handelt es sich bei Raum und Zeit um reale Phänomene oder existieren sie nur im Geist? Mit den Problemen der Kategorien Raum und Zeit und den immanenten Paradoxa beschäftigen sich seit Jahrtausenden die Gelehrten der Welt. Die damit verknüpften philosophischen Fragestellungen beflügeln die Literatur, beeinflussen die Modelle der Naturwissenschaften und liefern reichlich Stoff für Science Fiction.

Robin Le Poidevin, Professor für Philosophie an der University of Leeds in Großbritannien, hat eine Reihe von Vorlesungen unter dem Titel "Raum, Zeit und Unendlichkeit" gehalten. Aus dem Stoff dieser Vorlesungen ist sein Buch entstanden. Der Autor unternimmt eine spannende Reise entlang der Grenzen von Raum und Zeit und beleuchtet die merkwürdigen Widersprüche, die in den alltäglichen Vorstellungen verborgen liegen.

Die Zeit

Wir sind es gewohnt, mit unseren Messinstrumenten (Maßband, Waage, etc.) etwas Konkretes, Greifbares zu messen. Was registrieren Uhren? Uhren scheinen in der Lage zu sein, etwas zu messen, das unsere Sinne nicht anspricht. Gibt es eine objektive Eigenschaft der Welt, die von Uhren überwacht wird? In Anbetracht dieser Fragestellung unterscheidet Le Poidevin die Denkrichtungen Objektivismus und Konventionalismus. Für Objektivisten hat Zeit ein immanentes Metrum oder Maß. Das heißt, es gibt eine objektive Eigenschaft der Welt, die von den Uhren überwacht wird. Der Konventionalist lehnt diese Vorstellung ab. Für ihn handelt es sich bei der Zeit bzw. deren Erfassung durch Uhren lediglich um Mechanismen, durch die wir unser Leben ordnen, also um zweckmäßige Vereinbarungen. Auch die Einbeziehung von Newtons (zeitabhängigen) Bewegungsgesetzen in die Überlegungen ändert nichts an den unterschiedlichen Grundpositionen.

Kann man die Zeit anhalten? Was würde passieren, wenn alle Veränderungen aufhören würden? Wäre dies auch das Ende der Zeit? Mit diesen Fragen hat sich bereits Aristoteles beschäftigt. Er hat einige Paradoxa untersucht, die alle darauf hinaus zu laufen scheinen, dass es so etwas wie Zeit überhaupt nicht gibt. Die Paradoxa konnte er nicht lösen. Eine Zeit ohne Veränderung hielt er nicht für eine reale Möglichkeit. Gegen einen Zustand ohne Veränderung (und ohne Zeit) spricht das Prinzip des hinreichenden Grundes, welches Le Poidevin ausführlich erklärt.

Im Kapitel "Anfang und Ende der Zeit" erläutert Le Poidevin Vorstellungen der Astrophysik zum Beginn der Zeit und er thematisiert die Hypothese von einer zyklisch verlaufenden Zeit. Dies wäre eine mögliche Antwort auf den unvorstellbaren Anfang der Zeit, der eine Ursache voraussetzt. Unsere Vorstellungen von Kausalität wären damit aber hinfällig, da die Zukunft dann auch die Vergangenheit verursachen würde.

Ist Zeit ein reales oder ein irreales Phänomen? Von John McTaggart, Ende des neunzehnten Jahrhunderts Dozent am Trinity College in Cambridge, stammt der Beweis der Irrealität der Zeit. McTaggart hat sich viele Jahre mit dem Thema beschäftigt und seine Zeitreihen bieten noch heute Stoff für Diskussionen. Seine Thesen werden ausführlich erläutert.

Zeitreisen haben die Menschen schon immer fasziniert. Kann man die Vergangenheit verändern? In George Orwells "1984" gehört die Veränderung der Vergangenheit zum Tagesgeschäft (Zitat: "Wir, die Partei, kontrollieren alle Dokumente und wir kontrollieren alle Erinnerungen. Also kontrollieren wir auch die Vergangenheit, oder?"). Ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Durch eine Veränderung der Vergangenheit entsteht eine Umkehrung der Kausalität und damit treten Widersprüche auf. Aus diesem Dilemma kann der potenzielle Zeitreisende sich nicht befreien. Auch Stephen Hawking, bekannter Kosmologe in Cambridge, lehnt Zeitreisen ab.

Sehr anspruchsvoll sind die Analysen in dem Kapitel "Die Pfeile der Zeit". Robin Le Poidevin unterscheidet den thermodynamischen Pfeil (Richtung von der Ordnung zur Unordnung), den psychologischen Pfeil (Richtung von Erlebnissen zu Erinnerungen) und den kausalen Pfeil (Richtung von der Ursache zur Wirkung). Ist ein Pfeil grundlegender als die anderen? Kann die Richtung der Zeit eindeutig anhand eines dieser Pfeile definiert werden? Der Mensch ist in diesen Ordnungsstrukturen gefangen. Eine Welt, in der Ursache und Wirkung vertauscht wären, würde zu unlösbaren Paradoxa führen und dürfte kaum lebenswert sein.

Der Raum

Robin Le Poidevin beschreibt ausführlich die Positionen Absolutismus und Relationismus im Hinblick auf den Raum. Der Absolutist hält einen Raum, unabhängig von Objekten, für möglich. Der Relationist lehnt die Vorstellung von einem Raum als Behälter ab. Wenn es keine Objekte gäbe, so der Relationist, gäbe es auch keinen Raum. Was existiert, seien lediglich Beziehungen zwischen Objekten. Gegen räumliche Vakuen, wie sie in einem absoluten Raum denkbar wären, spricht, wie schon gegen zeitliche Vakuen, das Prinzip des hinreichenden Grundes. Ein Verfechter des absoluten Raumes war Newton, der zur Untermauerung seiner Hypothesen zahlreiche Experimente beschrieben hat.

In "Kurven und Dimensionen", einem der faszinierendsten Kapitel des Buches, beleuchtet Le Poidevin Euklids Parallelenpostulat "Durch einen nicht auf einer gegebenen Gerade befindlichen Punkt gibt es genau eine Gerade parallel zur ersten". Die Mathematiker Janos Bolyai,
Carl Friedrich Gauß und Nikolai Lobatschewski haben erkannt, dass diese Aussage keine fundamentale Wahrheit beschreibt, sondern dass alternative Geometrien (nichteuklidische Geometrien) denkbar sind, z.B. die Geometrie auf einer Kugeloberfläche. Auf dieser Grundlage ist auch die vielfach zitierte Geschichte von Flachland, einer zweidimensionalen Welt, entwickelt worden, um unsere eigenen Unzulänglichkeiten bei der Vorstellung einer vierdimensionalen Welt deutlich zu machen. Unterhaltsam ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie die Flucht aus einem zweidimensionalen Gefängnis erfolgen könnte. Eine vierte räumliche Dimension scheint es nicht zu geben, sonst wären schon Gefangene auf diesem Weg geflohen.

Zu den unlösbaren Fragen gehört die nach dem Rand des Universums. Wenn das Universum einen Rand hätte, was wäre dann dahinter? Gibt es Raum jenseits des Universums? Die gegenteilige Annahme eines unendlichen Universums scheint ebenfalls illusionär zu sein. Eine physikalische Antwort auf diese Frage findet man in dem Buch "Das Universum in der Nussschale" von Stephen Hawking.

Paradoxa der Unendlichkeit

Das Buch enthält, wie schon der Titel andeutet, eine Vielzahl von Paradoxa der Unendlichkeit. Ein bekanntes Beispiel ist der Wettlauf von Achilles und der Schildkröte, den Achilles nicht gewinnen kann. Folgende Überlegungen liegen diesem Fall zugrunde:

Achilles fordert die Schildkröte zu einem Wettlauf heraus. Er räumt der Schildkröte einen Vorsprung von 100 Metern ein. Achilles läuft zehnmal so schnell wie die Schildkröte. Nachdem Achilles 100 Meter gelaufen ist, hat die Schildkröte noch 10 Meter Vorsprung. Läuft Achilles weitere 10 Meter, so beläuft sich der Vorsprung auf 1 Meter. Legt Achilles diesen einen Meter zurück, so ist ihm die Schildkröte noch 0,1 Meter voraus. Und dies geht, zu Achilles' Erstaunen, immer so weiter. Die ungewöhnliche Schlussfolgerung lautet daher, dass der schnellere Läufer den langsameren nie überholen kann, wenn dieser einen Vorsprung hat.

Von ähnlicher Qualität sind die Paradoxa "Rätsel des Übergangs", "Kegel des Demokrit", "Zenons Pfeil" und viele andere mehr, die Robin Le Poidevin ausführlich beschreibt.

Physikalisch geht es im Kapitel "Andere Zeiten und Räume zu". Aus der Quantenphysik ist das bis heute unerklärte Doppelspaltexperiment bekannt, bei dem Elektronen sich manchmal wie Wellen und manchmal wie Teilchen verhalten. Eine hervorragende Beschreibung dieses Experiments befindet sich in dem Buch "Vom Wesen physikalischer Gesetze" von Richard Feynman. Auf der Basis dieses Experimentes ist die mathematisch plausible, aber experimentell nicht verifizierbare "Viele Welten-Theorie" entstanden, auf die Le Poidevin eingeht.

Fazit

In dem Kapitel "Abschließende Überlegungen" fasst Robin Le Poidevin die wesentlichen Aussagen seines Buches zusammen. Da endgültige Antworten fehlen, hinsichtlich der Unzulänglichkeiten menschlicher Erkenntnismöglichkeiten wohl auch fehlen müssen, stellt der Autor viele Fragen und regt damit zum Nachdenken an. Das Buch beeindruckt durch eine imposante Stofffülle und ausführliche und verständliche Erklärungen.

Wo liegen die Antworten? Meines Erachtens beschreiben Immanuel Kants a priori Denkkategorien (angeborene Vorurteile über die Welt) und Hoimar von Ditfurths aus dem Blickwinkel der Evolution entstandene Erkenntnis "Wir leben nicht in der Welt, sondern in dem Bild, welches wir uns von ihr machen", am plausibelsten unsere Situation. Hinsichtlich unserer Erkenntnismöglichkeiten sitzen wir noch immer in Platons Höhle, mit dem Rücken zur Öffnung.

Robin Le Poidevin ist Professor für Philosophie an der University of Leeds in Großbritannien; er veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Philosophie der Naturwissenschaften und der Religionsphilosophie.

(Klemens Taplan; 09/2004)


Robin Le Poidevin: "Wie die Schildkröte Achilles besiegte oder Die Rätsel von Raum und Zeit"
Aus dem Englischen übersetzt von Michael Schmidt.
Reclam Leipzig, 2004. 368 Seiten.
ISBN 3-379-00819-2.
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