Raymond Queneau: "Stilübungen"


Variationen des Schreibens und Lesens und Weiterschreibens

Sechzig Jahre nach dem ersten Erscheinen der Originalausgabe der 'Exercises de Style' von Raymond Queneau (1903-1976) kommt nun die soundsovielte deutsche Neuauflage immer noch in der Übersetzung Ludwig Harig und Eugen Helmlé in den Handel. Harig bemerkt in seinem Nachwort: "Die Übersetzung der Exercises de style war ein Drahtseilakt: Queneau turnte ihn uns vor, wie es einst nur Till Eulenspiegel zustande gebracht hat." Und Harig führt den Vergleich fort, dass nämlich Queneau - wie Eulenspiegel, der den Zuschauern ihre linken Schuhe, die er sich vorher erbeten hatte, auf die Straße warf - seine "linken Wörter" den Lesern vor die verdutzten Köpfe wirft, "damit sie mit Hilfe der rechten Bedeutung eine passende Geschichte zusammenbringen."

Die zugrundeliegende Handlung ist denkbar banal: ein beobachtendes Ich sieht zweimal einen Fremden im Abstand von zwei Stunden - einmal im Bus, wo er einen Sitzplatz ergattert, dann auf einem freien Platz mit einem Bekannten. Und diese Geschichte erzählt Queneau noch 98mal in sprachlich unterschiedlichen Variationen. Hans Magnus Enzensberger vermutet in seiner Vorbemerkung zur ersten deutschen Übersetzung (1961), dass hier die Gültigkeit von Erfahrung bzw. Wahrnehmung angezweifelt werde. So scheint es Queneau um die eher philosophische Frage zu gehen, ob es eine richtige eindeutige Wahrnehmung gebe. Einen Gedanken Gottfried Benns (Marburger Rede, 1951) aufnehmend, könnte es sich nach Enzensberger aber auch eher um ein ästhetisches Problem handeln: Benn sprach vom "Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte, sich selbst als Inhalt zu erleben und aus diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden" - Benn sprach gar von einer "Transzendenz der schöpferischen Lust." Dass in solchem Zusammenhang die Übersetzung ein perpetuierendes Risiko war, muss wohl kaum noch erwähnt werden.

Im Jahr 1961 erschien ein Gedichtband mit dem Titel 'Cent mille milliards de poèmes' - freilich handelt es sich dabei um potenzielle Sonette, die durch mathematisch errechenbare mögliche Kombinationen entstehen würden. Verglichen damit hat es dieser surrealistische Dichter, Philosoph, Mathematiker und Verkünder der Pataphysik im vorliegenden Buch doch noch recht gnädig mit dem Leser gemeint. Die unterschiedlichen Variationen bieten beispielsweise eine 'Verdoppelung' ("Ich sah und bemerkte einen jungen Mann und alten Jüngling"), eine Erzählweise 'Rückwärts' oder als 'Traum', als 'Vorhersage' oder 'Wortschnitzeljagd'. Auffällig etwa auch der Text mit Zahlenangaben 'Genauigkeiten' ("ein 27 Jahre, 3 Monate und 8 Tage altes, 1,72 m großes und 65 kg schweres Individuum") oder die 'Negativitäten', wo erklärt wird, worum es sich nicht handelt. Witzig etwa das 'Homöotelenton' ("Der wohlbestallte Autobus stand an der Halte. Ein junger Balte krawallte, denn der Alte prallte an seine gebügelte Falte"), eher schon albern die 'Lautmalereien' ("Es war um die Mittagszeit bimbambum, bimbambum"). Anspruchsvoller das Ganze als 'Alexandriner', spielerisch die Varianten 'Aphäresis' ("nen tobus ler gäste. merkte nen gen schen sen") oder 'Apokope' ("Er ge in Rase ge ei ande Fahr") - oder auch 'Schwülstig' oder 'Vulgär'.

Ja, es ist doch wohl die Lust am Sprachspiel, welche hier die Lust am losgelösten Lesen wecken soll. Überdies hat dieses Buch auch schon als Vorlage für Stilübungen in Schreibwerkstätten gedient. Es ist tatsächlich so: im Grunde könnte jeder Leser neue weitere Varianten ergänzen - warum eigentlich nicht?! Nehmen wir die Herausforderung an: lassen wir's in unseren Köpfen weiterdichten!

(KS; 04/2007)


Raymond Queneau: "Stilübungen"
Aus dem Französischen von Ludwig Harig und Eugen Helmlé.
Mit einem Nachwort von Ludwig Harig.
Suhrkamp, 2007. 172 Seiten.
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Raymond Queneau, geboren 1909 in Le Havre, war Surrealist, Romancier, Poet, Cineast und Kritiker. Sein bekanntester Roman war "Zazie in der Metro". Außerdem war er zusammen mit George Perec, Jacques Roubaud u.a. Gründungsmitglied der legendären Gruppe Oulipo. Raymond Queneau starb 1976 in Paris.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Die blauen Blumen"
Wie gewohnt setzt sich der Sprachvirtuose Queneau über jede herkömmliche Logik hinweg und schreibt einen hinreißend amüsanten Roman über das Thema Identität.
Herzog von Auge heißt mit Vornamen Joachim, hat drei Töchter und lebt im Jahre 1264 auf einem Schloss. Auch Cidrolin heißt Joachim, hat drei Töchter, wohnt aber auf einem Schleppkahn, und man schreibt das Jahr 1964. Der Herzog ist ein umtriebiger Haudegen, während Cidrolin sich lieber dem süßen Nichtstun widmet und "Fenchelessenz" trinkt. Nichts scheint die beiden unterschiedlichen Helden auf den ersten Blick miteinander zu verbinden, doch wenn der eine erwacht, versinkt der andere in tiefen Schlaf und umgekehrt.
Wer träumt hier wen? Sind der Herzog und Cidrolin Doppelgänger oder dieselbe Person? Oder ist das ganze Leben ein Traum? (Verlag Klaus Wagenbach)
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"Unwahrscheinliche Flausen bekehrter Sodomiten. Die schönsten Texte"
Wer den berüchtigten Sprachakrobaten und Humoristen der französischen Moderne entdecken möchte (oder jemanden auf seine Spur setzen will): hier die abgedrehtesten Passagen seiner berühmtesten Werke als Einstiegsdroge. Hans Thill stellt den Romancier, Poeten, Kritiker, Cineasten, Mathematiker und Philosophen mit Beispielen aus seinem gesamten literarischen Werk vor: den berühmten Stilübungen, Überlegungen der merkwürdigsten Art, witzigen Romanpassagen und hintergründigen Reimereien, von denen viele hier in seiner Übersetzung erstmals in deutscher Sprache erscheinen. (Verlag Klaus Wagenbach)
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"Vom Nutzen und Nachteil der Beruhigungsmittel"
Miniaturen aus der Gegenwart, in denen mit zärtlichen Grobheiten und Queneaus großem Witz die Wirklichkeit zurechtgeschüttelt wird.
Ein Hund, der sich in einem Provinzbistro mit seinem Tischnachbarn unterhält? Ein Pferd, eindeutig trojanischer Herkunft, das sich in einer Luxusbar einen Drink genehmigt? Nichts Besonderes dabei. In diesen Prosastücken finden die Gepflogenheiten der Wirklichkeit sowieso nur relative Berücksichtigung. Genaues Hinsehen allerdings empfiehlt sich: Ob zwei und zwei vier sind, hängt von der Windgeschwindigkeit ab. Und was wären der bestimmte und der unbestimmte Artikel ohne Haushaltsartikel und Exportartikel?
Raymond Queneau, Surrealist, Gründungsmitglied der legendären Gruppe OuLiPo und mit "Stilübungen" und "Zazie in der Metro" zum Klassiker geworden, hatte diese Prosaminiaturen zur gesammelten Veröffentlichung bestimmt. Sie erschienen aber erst nach seinem Tod. Sie entzücken alle, die mit dem zärtlichen Witz vertraut sind, mit dem Queneau seine Figuren verwöhnt und seine Sprache geölt hat. (Verlag Klaus Wagenbach)
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