Platon: "Der Staat"

"Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee. Der Staat ist die Wirklichkeit des substanziellen Willens. Der Staat ist die Wirklichkeit der konkreten Freiheit."

(Georg Wilhelm Friedrich Hegel)


Platonismus

Literatur von zeitlosem Gehalt mag in unseren Tagen im Sinne eines literarischen Wucherns alltäglich geworden sein, zumal ausgerechnet das Vornehme, seiner betörenden Strahlkraft wegen, im Zeitalter industrieller Reproduktion von Kultur zum Allgegenwärtigen vermasst und dabei in seiner erlesenen Begrifflichkeit in das Allerlei der Alltagssprache absinkt (so zum Beispiel auch der Begriff der "platonischen Liebe", den mittlerweile schon jedermann unbedarft im Munde führt). Was bleibt, ist dann eben nur noch schöne Literatur, die dem selbstzelebrierten Schöngeist zum Vorzug gereicht und gleich einem sakralen Ornament seine Behausung adelt, obwohl doch nur eitle Vermassung und Fassadenkultur dieses alles dann bloß noch ist. Eine schöne neue Welt der Plebejisierung alles wahrhaftig Aristokratischen tut sich somit neuerdings vor unserem Auge auf; stolz auf ihren Niedergang! Und freilich, diese Trivialität des Verallgemeinerten haftet auch Platons Schriftwerk schon wesenhaft an, da es eben - oberflächlich betrachtet - zu allererst einmal wirkmächtiges Schriftzeug aus fernen Tagen ist, das - in vielerlei Aspekten vulgär geworden - wie kein anderes dem abendländischen Denken seine besondere Gestalt gab und, da reizvoll für den gemeinen Sinn der Vielen, auf eine bestimmte Weise zum guten Geschmack, jedenfalls jedoch zum Bildungskanon höherer Gelehrsamkeit gehört, was immer das auch sei.

Vermassungstendenzen machen hierzulande vor keinem Heiligtum halt und sind geradezu mit der populistischen Praxis der Farce christlichabendländischer Volksfrömmigkeit identisch, deren ebenso massenbedürftiger wie ehrfurchtsloser Grundcharakter allemal demokratisch ist. Platons aristokratische Philosophie - im Grundentwurf noch elitär - wurde (nicht zuletzt über das Einwirken der Scholastik) im Laufe ihrer Wirkungsgeschichte jedenfalls zur Bestsellerliteratur proletarisiert. Zur Illustration dieser These sei ganz beiläufig nur einmal knapp auf Platons Ideenlehre verwiesen, jene geniale Aufspaltung von Wirklichkeit in ein intelligibles und in ein sensibles Dasein, die den Blick des Betrachters auf eine unvergängliche Überwelt vollendeter Wesenheiten richtet, die beständiger und deswegen wirklicher sind als die ebenso hinfälligen wie wechselhaften Dinge unserer Sinnenwelt. Ein Vorstellungsmuster, das der Christenheit maßgeblich wurde, zumal es sich nachhaltig in das europäische Seelen- und Geistesleben christlicher Provenienz einflocht und solcherweise zur besonderen Allgemeinbefindlichkeit abendländischer Grundgestimmtheit wurde. Der europäische Mensch ist dann auch Idealist, und seinem intellektuellen Sinnieren beliebt es zu schweifen in die Ferne utopischer Vorstellungswelten. Die symbolische Sinnwelt des Alltagswirklichen hat somit ihre Ursprünge in nicht unerheblichem Maße im Geiste des Platonismus, soweit sich nämlich seine Wahrnehmungsweisen im Bewusstsein kollektiver Organismen im Laufe der Jahrhunderte eingerichtet haben.

Der Geist der Utopie

Nun denn, Platons "Der Staat"; bzw. die Politeia ist weitaus mehr als nur edler Wortsinn, der gefällt und erquickt, Platons "Der Staat" ist - wie schon angedeutet - ein wesentlicher Bestandteil des ideellen Fundaments abendländischen Denkens und Empfindens schlechthin. Dieses Werk enthält die Grundfassung eines ewiglich gültigen intelligiblen Begriffs von Gerechtigkeit und ist solcherart der [vermeintlich erste] umfassend ausformulierte irdische [also nicht über Göttermythen sondern durch menschliche Intelligenz vermittelte] Entwurf des Guten in ideeller Gestalt. Hingebungsvoll und verständig gelesen ist die Politeia der Grundton im Klangkonzert jeder ernst gemeinten Sittenordnung und - bejahend aufgenommen - ein Bekenntnis dazu. Es würde jetzt der Wunsch zur Maßlosigkeit eskalieren, die Namen jener Dichter und Denker anführen zu wollen, die, so wie beispielsweise Hegel, über Platons Ideenlehre in ihrem geistigen Streben zur reinen Idee des Guten und Schönen fanden, doch waren es deren zweifellos Legionen, wie denn überhaupt, und wie schon gesagt, der visionäre Geist europäischer Lebensart im Grunde genommen platonischer Natur ist.

Der Geist der Utopie ist originär europäisch und erlebt seine erste große Entfaltung in Platons Ethik und Staatslehre der Politeia. Wie immer wenn es um Grenzbegriffe menschlichen Denkens geht, so stellt sich auch im Zusammenhang mit Platons Staatsutopie zwingend die Frage nach der Wirklichkeitstauglichkeit? Wie möglich ist das Unmögliche? Und wie real ist das Wünschenswerte? War Platon ein wirklichkeitsfremder Schwärmer, ein Philosoph, dessen Sinnen sich im Sternenmeer des Himmels verliert und sich dabei zugleich jener Erde entfremdet, in deren Schmutz und Staub seine Füße stehen? Ist der Geist der Utopie nach Platons Manier der Geist eines Irren oder Angeekelten, der zwar dem Starken und Schönen, dem Reinen und Wohlgefügten in Worten huldigte, jedoch dieses aus wirklicher Schwäche tat, da er der Obszönität des Stofflichen nicht standhielt und deswegen in sterilisierte Gespensterwelten flüchtete? Ein Ausweichen in eine klinisch gesäuberte Überwelt, deren unerträglich beschmutzte Kopie die Erdenwelt ist? Diese Einwendungen mögen wie immer gelten und hinnehmbar sein, doch wirken sie verfehlt in Anbetracht der Theorie einer Staatskunst, welche, wenn auch unzeitgemäß, in ihren grundlegenden Charakterzügen wesentlich tugendhafter ist, als das, was uns als Wirklichkeit öffentlicher Ordnung heute so selbstverständlich und unwiderruflich scheint. Platons Entwurf eines idealen Staates, genauer gesagt: einer idealen Verfassung menschlichen Zusammenlebens, erweist sich bei genauerem Hinsehen als durchaus diskussionswürdig und keineswegs absurd. In der Tat, es geht Platon um Reinheit irdischer Lebensverhältnisse. Die Überwelt ist nur das Modell, das dem Handeln die Richtung vorgibt. Dies gilt es zu erkennen, und die Politeia ist die Erkenntnis einer alternativen Gesellschaftsordnung moralischer Natur.

Vorausgehend zu der angenannten Erkenntnis gilt es jedoch frei im Geiste zu werden, das will heißen, Vorurteile pseudokorrekten Denkens und eingewöhnte Tabuisierungen abzulegen, denn gar manche von Platons Ideen müssen den modernen Menschen als politisch unkorrekte Anstößigkeiten anwidern, nähert er sich ihnen nicht unvoreingenommen und intellektuell lüstern an. Platons Utopie ist nämlich weder den Prinzipien demokratischer Herrschaft sklavisch untertänig, noch enthält er sich - als Kind seiner Zeit - bei ihrer Ausformulierung des [ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts] anrüchig gewordenen Gedankens biologistischer Zuchtauslese. Seine politische Zielsetzung ist im eigentlichen doch besonderen Sinne aristokratisch und - man muss es so sagen - rassistisch. Rassistisch, ohne dabei jedoch einem Rassenwahn zu frönen, was an dieser Stelle klarzustellen ist. Momente eines fürsorglichen Totalitarismus sind seinem Denken zudem bestimmt nicht fremd. Die Betonung liegt auf "fürsorglich", was im Fortlauf dieses Textes noch näher auszuführen sein wird.

Sittenordnung

Es wäre falsch, den Themenreichtum der Politeia auf eine politische Lehre zu reduzieren. Die zehn Bücher der Politeia, wir würden heute von Kapiteln sprechen, behandeln mannigfaltige Fragen menschlicher Ethik und Psychologie, des Erkenntnisvermögens und der Metaphysik, der anthropologische Dualismus von Leib und Seele wird ebenso reflektiert wie Fragen der Kunst und der Grenzen von Kunst in Verbindung mit Pädagogik. Auch die Mystik tritt nicht zuletzt über die Ideenlehre ganz massiv in Erscheinung, woran sich die christliche Theologie in späteren Jahrhunderten geistig labte, dies alles jedoch immer aus der Perspektive politischer Theorie und zum Nutzen politischen Gestaltungswillens gedacht. Die rechte, richtige und gerechte Ordnung menschlichen Lebens steht konkurrenzlos im Fokus aller Erwägung. Das In-der-Welt-Sein schlechthin ist politisch und bedarf in seiner ganzen Problematik einer [in diesem Fall: radikalen] politischen Lösung.

Vorbild Sparta

Platon lässt sich zur geforderten politischen Klärung menschlicher Existenzproblematik einiges einfallen, von dem jedoch vieles nicht originär auf sein Denken zurückzuführen ist. Er lernt insbesondere von den Vorsokratikern, namentlich von Heraklit und Parmenides. Der asketische Wesenszug der Politeia liest sich orphisch. Hauptsächlich schwebt ihm jedoch eines vor: Das idealisierte Bild Spartas, der führenden Militärmacht innerhalb Griechenlands, beherrscht von einer Kriegerkaste, deren einfache Lebensführung sprichwörtlich wurde. Platon benennt den großen Einfluss des spartanischen Vorbilds auf sein Denken nicht beim Namen, dies vielleicht aus politischer Rücksichtnahme, Sparta war zu jener Zeit der Todfeind des demokratischen Athen ("Peloponnesischer Krieg" 431-404 v. Chr.), doch bedarf es keiner besonderen Einsicht, um die Bezugnahme auf den Mythos Sparta zu erkennen. Insofern nahm Platons utopisches Denken Maß an einem Staatsgebilde seiner Zeit, das real existierte, obgleich der Mythos Sparta nicht ganz identisch mit der geschichtlichen Wirklichkeit Spartas war. Verfassungsidealität und Verfassungsrealität divergierten voneinander auch in diesem besonders gelagerten Fall einer mit unnachgiebiger Strenge disziplinierten Kriegerkultur.

Gesellschaftsordnung und Philosophenherrschaft

Nach Maßgabe des formellen Vorbilds Sparta konzipiert Platon den idealen Staat als ein straff in Kasten untergliedertes Gesellschaftsmodell, im Großen und Ganzen geordnet in die Stände der Philosophenherrscher, der Krieger und der Erwerbstreibenden. Es handelt sich hierbei um eine Ordnung nach Fähigkeiten, innerhalb deren Bezugsrahmen jeder nach seiner ihm angeborenen Eignung eingesetzt wird. Wer ernsthaft und verständig nach höherer Erkenntnis strebt, ist Philosoph, der Experte für Gewalt ist Krieger und der Volksrest versammelt sich im dritten Stand, welcher die ökonomische Basis bildet. Für Gottesanbeter scheint kein besonderer Rang vorgesehen. Die Nutzbarmachung von Vorzügen steht im Zentrum der Erwägungen. Und da der Philosoph seiner besonderen Neigung wegen an der vernunftgemäßen Erkenntnis von Wahrheit, Güte und Gerechtigkeit interessiert ist, ist er charakterlich und geistig am besten zur Ausübung des Regierungsamts geeignet. Insofern sollen Philosophen herrschen, oder die Herrschenden zu Philosophen werden.

Der Mensch jedoch ist schwach und noch in seinem edelsten Ansinnen korrumpierbar, weshalb Platon für den Philosophenstand, dessen würdigste Aufgabe es ist, über die einmal von einem Gesetzgeber eingesetzte ideale Staatsordnung zu wachen, weswegen er auch der "Wächterstand" ist, eine besondere Lebensart vorsieht, die jedes private Interesse an einer Bereicherung ausschließt und den Funktionsträger in seiner dienenden Stellung für das Gemeinwohl aufgehen lässt. Der Philosoph führt sein Leben sodann auch - und das im Unterschied zur wirtschaftlich produktiven Bevölkerungsmehrheit - in kommunistischer Gemeinschaft mit den Gleichgestellten, wie Platon im "Fünften Buch" ausführt, ohne Eigentum und ohne Familie und ohne Ansprüche an Luxus und gehobene Bedürfnisse gleich welcher Art. Mit einem Wort: Spartanisch!

Gütergemeinschaft, Geschlechtergemeinschaft, Zuchtauslese

Platon ist Hundeliebhaber. So scheint es zumindest, denn wiederholt dient dem Philosophen der Hund bzw. die Kunst der Hundezucht als beachtliches Beispiel für dieses und jenes und schließlich dann auch für die gelungene Herausbildung von wünschenswerten Charaktermerkmalen, eine Praxis der Lebensformung, wie sie nun auch für den Menschen gelten sollte, wollte er denn an Rassenadel hinzugewinnen, was im Grunde genommen durchaus als sittliche Zielsetzung geboten sei. Um dieses vornehme Ziel der Rassenveredelung zu erreichen, mögen die Besten und Schönsten der Männer den Besten und Schönsten der Frauen in organisierter Geschlechtergemeinschaft beischlafen. Aber das natürlich nur innerhalb der eigenen Kaste, ansonsten die Gefahr der Zeugung von Bastarden besteht. Es ist deswegen behördlich zu überwachen, dass nicht im Finstern frevelhafter Unenthaltsamkeit unerlaubte Bastarde gezeugt werden und dann vielleicht gar das Licht der Welt erblicken (Fünftes Buch). Zumindest was den Philosophenstand betrifft, sei die Einehe abzuschaffen, eben um jedes private Nutzenkalkül zu tilgen. Was den Kriegerstand betrifft, ist Platons sexualpolitische Intention aus dem vorliegenden Text nicht eindeutig zu erkennen, doch dürften gemeinschaftliche Ordnungsprinzipien auch für diesen Stand zweckmäßig sein. Dem dritten Stand bleibt sein bürgerlicher Lebensstil erhalten. Was übrigens einen realistischen Aspekt in Platons Utopie beschreibt, welche bezüglich der wirtschaftlichen Lebensgrundlagen sich unabwägbarer Experimente tunlichst enthält.

Erziehung der Philosophenkinder

Aus dem gleichen Grund, der Tilgung jeden privaten Interesses, sollten die Kinder der Philosophen im Kollektiv aufwachsen und sich solcherweise im Geiste ihrer angestammten Kaste sozialisieren. Ihre biologischen Eltern kennen sie nicht; die Kaste ist ihre Familie und sie sind, da von deren Fleisch und Blut, mit ihr in gemeinsamer Biologie verbunden. Pädagogik basiert bei Platon auf lustvollem Lernen und nicht auf Zuchtmeisterei, wobei auf die Herausbildung von tugendlichen Vorzügen, damit ist bei Platon Tüchtigkeit gemeint, zu achten ist. Die Erlangung der vier Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit ist Ziel aller erzieherischen Bemühung. Negative Einflüsse, die die Jugend in ihrem selbstaufopferungswilligen Streben irritieren könnten, sind von ihr fernzuhalten, weshalb es Platon unter anderem unumgänglich erscheint, die großen Mythen der griechischen Antike, in etwa die "griechischen Heldensagen" eines Homer mittels Zensur von demoralisierenden Textstellen zu säubern. [Platon ergrimmt sich vor allem über Szenen der Wehklage und des Selbstzweifels bei Helden sowie über die trostlose Darstellung des Hades, was seines Erachtens einer Sabotage jugendlichen Todesmuts gleichkommt.] Der Schutz der Jugend vor verderblichen Einflüssen müsse gegenüber dem Recht der Kunstschaffenden auf "Freiheit der Kunst" jedenfalls vorrangig sein.

Es ist in diesem Zusammenhang klarzustellen, dass - wenn Platon nach Kunstzensur verlangt - nicht pure Kunstfeindlichkeit aus ihm spricht, war er doch selbst ein feinsinniger Mann, sondern Fürsorglichkeit und somit Sorge um das sittliche Gedeihen jener auserwählten Menschen, von denen in späteren Jahren das Schicksal aller abhängt.

Gleichheit der Geschlechter

Mädchen und Knaben sollten übrigens gemeinsam im "sozialistischen" Sinn erzogen und hierbei gleich behandelt werden, wie denn auch gleich in ihren Rechten stehen. Es gäbe nämlich keinen vernünftigen Grund dafür anzunehmen, dass Mädchen und Frauen nicht alles ebenso könnten, was Knaben und Männer können. Platon fordert die totale Gleichstellung von Männern und Frauen innerhalb der Kaste von Kindesbeinen an und begründet dies nicht über einen abstrakten Begriff vorgestellter Gleichwertigkeit der Geschlechter, sondern mit der allgemeinen Erfahrung einer annähernd gleichen Tüchtigkeit von Männern und Frauen. Folglich sollten Frauen genauso als Philosophinnen herrschen wie Männer als Philosophen. Gleiches gilt jedoch auch für den Kriegerstand; der demnach dann also ein Krieger- und Kriegerinnenstand ist. Ein zu jener Zeit, alles in allem, sensationeller Gedanke.

Ideenlehre

Es wurde weiter oben schon angemerkt, dass die Politeia in ihrem unvergleichlichen Themenreichtum über weitaus mehr als nur die Frage des idealen Gemeinschaftsgefüges abspricht, jedoch dieses allemal mit Bezug auf die Verfassung menschlicher Lebensordnung in der griechischen Polis. Eng verknüpft ist sodann auch die Lehre von den unvergänglichen Ideen mit der politischen Wissenschaft Platons, schlussendlich fokussiert im Wissen um die gerechte Ordnung, deren vollkommener Idealität der reale Zustand weltlicher Staatlichkeit als Verfallsprodukt gegenübersteht. Der Gegenwartsstaat ist ein Staat im Niedergang, ein trauriger Abgesang auf jene einstige Staatsherrlichkeit des "Goldenen Zeitalters", als noch nicht Habgier und Missgunst die Menschen entzweiten und das Miteinander im Staat harmonisch geordnet war. Platons Ideenlehre hinterfragt nun die Differenz von Schein und Wirklichkeit und schließt daher kommend auf eine Ethik des Handelns, da - um bei der politischen Relevanz dieser Schrift zu verbleiben - nicht der korrumpierte Staat Ziel politischen Handelns sein kann und sein darf, sondern einzig der ideale und folglich wahre Staat dem Besonnen und Gerechten ein Anliegen ist.

Zu der in der Politeia entwickelten Lehre von den Formen oder Ideen hat Karl Popper in "Der Mythos von Ursprung und Schicksal" sehr treffliche Worte gefunden: "Die veränderlichen Dinge, die entarteten und dem Verfall ausgesetzten, sind wie der Staat, gewissermaßen die Nachkommen, die Kinder der vollkommenen Dinge. Und wie Kinder sind sie Abbilder ihrer Ahnen. Den Vater oder das Original eines veränderlichen Dinges nennt Platon die 'Form', das 'Modell' oder die 'Idee' dieses Dinges. Wie bereits bemerkt, müssen wir hervorheben, dass die Form oder Idee trotz ihres Namens keine 'Idee' im psychologischen Sinn ist; sie ist kein Vorstellungsbild, kein Traum, sondern ein wirkliches Ding. Sie ist sogar in höherem Grade wirklich als alle die gewöhnlichen und veränderlichen Dinge, die trotz ihrer scheinbaren Festigkeit zum Verfall verurteilt sind; denn die Form oder Idee ist vollkommen und ist nicht vergänglich."

Das Sonnen- und Höhlengleichnis

Wie der Philosoph, und ebenso die Philosophin, nun zur Anschauung dieser höheren ideellen Wahrheit gelangt, deren Dinge in einem höheren Grade wirklich sind als die Dinge unserer sinnlich vermittelten Erfahrungswelt, das hat Platon in seinem berühmten "Sonnen- und Höhlengleichnis" zur Darstellung gebracht, der wohl populärsten Textstelle aus "Der Staat". Bei dem "Höhlengleichnis" [die gerne titulierte "Sonne" fällt zuweilen einem Hang zur Kürze zum Opfer] handelt es sich um eine Parabel auf die Erkenntnis des Schönen, Wahren und Guten, deren ideelles Sein nur geistig wahrnehmbar ist und die vermittels der Ideen als vollkommene Verkörperung vielgestaltiger irdischer Dinge, der Sinnendinge, zu erachten sind.

Was sich nun bei beiläufiger Betrachtung wie bloße Erkenntnistheorie liest, als erkenntnismäßiger Aufstieg zur "Idee des Guten" [= Die "Ursache von allem Richtigen und Schönen"], hat tatsächlich einen eminent politischen Bezug, indem es nämlich den Herrschaftsanspruch des Philosophen legitimiert, der es als Einziger versteht, die höhere Wahrheit des Seins zu schauen, während alle Anderen nur deren Schattenspiegelungen wahrnehmen und Zeit ihres Lebens umfinstert bleiben. Gerechtigkeit leitet sich bei Platon vom Vermögen zu einer Sache ab, und so ist es alsdann gerecht, wenn Einer tut was er tun kann, jedoch ist es ungerecht, wenn Einer tut was er nicht tun kann und solcherart das gemeinsame Tun missraten lässt. Nur wem das Licht der Erkenntnis leuchtet, ist zur politischen Herrschaft berufen. Insofern stellt das so genannte "Höhlengleichnis" eine entschiedene Absage an das Herrschaftsmodell der Demokratie dar.

Man könnte sich jetzt in Anschluss an das "Höhlengleichnis" voreilig ob der Demokratiefeindlichkeit Platons empören, der eine intellektuelle Elite, die sich dann auch noch zur Kaste verfestigt und als solche vom gesellschaftlichen Rest absondert, zur alleinigen Herrschaft berufen sieht, doch möge man sich, bevor man dem Philosophen allzu sehr zürnt, zum Vergleich die negativen Auslesemechanismen zur Rekrutierung von Politikern in der Elitenkonkurrenz gegenwärtiger Parteiendemokratien vor Augen halten, wo nur zu selten überragende Intelligenz und unbestechliche Tugendhaftigkeit den Ausschlag für eine Nominierung geben. Auch wäre stets zu hinterfragen, wer denn nun in der ökonomisch vermittelten Herrschaftsordnung postkapitalistischer Gesellschaften die wirklich Herrschenden sind? Demokratie hin, Demokratie her, Systemkritiker vom Schlag eines Jean Ziegler wissen dazu so einiges über die wirklichen, bzw. " Die neuen Herrscher der Welt" mitzuteilen.

Zur Wirkungsgeschichte der Politeia

Über lange Zeit erbrachten die Denker aller Epochen Platons Politeia den ihr gebührenden Respekt. Der Römer Cicero benannte sogar sein Hauptwerk in Huldigung des großen Griechen mit dem Buchtitel "De re publica", obgleich dem getreuen Beamten und Staatspolitiker Cicero, im Unterschied zu dem systemoppositionellen Privatgelehrten Platon, nicht ein noch zu verwirklichender Idealstaat vorschwebte, sondern er vielmehr meinte, der beste aller Staaten sei bereits in Gestalt des Römischen Imperiums verwirklicht. Problematisch zu beurteilen ist in weiterer Folge die "Dogmatisierung platonischer Teilpositionen" (Jaspers) durch die christliche Theologie des Mittelalters und seine Einbindung in den Universalienstreit der Scholastik. Eine besondere Ehrung widerfuhr dem platonischen Denken schließlich in der Mystik von Meister Eckhardt, vermittels derer die thematische Tiefe und Breite des griechischen Philosophen einmal mehr zur eindrücklichen Veranschaulichung gelangt. Gewaltig dann auch der Einfluss Platons auf das ästhetische und ethische Denken der Renaissance. In der Aufklärung und deutschen Klassik rühmte man Platon ob seiner brillanten Ideen als herausragenden Denker. Der amerikanische Transzendentalist Henry David Thoreau trug selbstverständlich seine "platonischen Dialoge" mit sich, als er sich in ein Leben mit der Natur zurückzog. In seinem Buch "Walden" berichtet er dieses.

Zur neuzeitlichen Kritik der Politeia

Eine im Wortlaut ziemlich kraftvoll polternde und trotzdem feinsinnige Absage an die Staatstheorie Platons ist sodann im 19. Jahrhundert aus Friedrich Nietzsches "Vom neuen Götzen" herauszulesen, doch blieb es Denkern des 20. Jahrhunderts vorbehalten, die Politeia und ihren Schöpfer einer demolierenden Kritik zu unterziehen. In einer wahrlich scharf an der Grenze zur unsachlichen Polemik verfassten Schmähschrift diffamierte der vor den Nationalsozialisten nach Neuseeland geflüchtete Österreicher Karl Popper Platons Hauptwerk, die Politeia, als faschistische Ideologie. Platons Idealstaat sei in der Tat der zum Stillstand gebrachte, der versteinerte Staat. Und in seinem Vorwort zur siebenten deutschen Auflage (1992) des Pamphlets schrieb Popper die Ungeheuerlichkeit: "Ich verabscheute die Namen beider [Hitler und Stalin] so sehr, dass ich sie in meinem Buch nicht erwähnen wollte. So ging ich auf Spurensuche in der Geschichte; von Hitler zurück zu Platon: dem ersten großen politischen Ideologen, der in Klassen und Rassen dachte und Konzentrationslager vorschlug." Der Titel des besagten Buches ist "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", erstmals erschienen 1945 und - welche Platon herabwürdigende Unverfrorenheit - von Popper selbst ausgewiesen als sein Beitrag zu den Kriegsanstrengungen. Eine besonders lobende Würdigung erfuhr Poppers Demontage der Politeia durch Bertrand Russell, der "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" nicht nur als von größter Bedeutung befand, sondern vielmehr dann auch noch die darin ausgeführte Kritik der alten und neuen Feinde der Demokratie als "meisterhaft" beurteilte. In seiner 1950 erschienenen "Philosophie des Abendlandes" unterzog der lebende Philosoph Russell den toten Philosophen Platon dann selbst einer teils unfairen, überwiegend jedoch ätzenden Beurteilung, um nicht zu sagen einer Schändung des wehrlosen Toten, wobei er dem Griechen partiell philosophisches Unvermögen vorwirft und des Weiteren den Dialog zwischen Sokrates und Thrasymachus im ersten Buch der Politeia entgegen der bis dahin nahezu unbestrittenen Intention des Autors zur ungelösten philosophischen Streitfrage deklariert. [Thrasymachus vertritt die Auffassung: "Das Gerechte ist nichts Anderes als das dem Überlegenen Zuträgliche." Sokrates widerlegt diese These souverän. Laut Russell jedoch ein unwirklicher Sieg.] Höhnisch merkt Bertrand Russell zur Politeia an, dass trotz aller schönen Worte mit Platons Staatskunst nicht mehr als kriegerische Tüchtigkeit und ausreichende Ernährung erreicht werde. Und fast schon bemitleidend: "Platon hatte in Athen gelernt, was Hunger und Niederlage bedeuten; vielleicht hat er unbewusst geglaubt, höchste Staatskunst wäre es, diese Übel zu vermeiden."

Apologetik und Schlussbemerkungen

Die Apologetik von Platons "Der Staat" wirkt angesichts der aggressiv vorgetragenen Kritik in ihrer Abwehrgestik oft hilflos und in ihrer Argumentation zögerlich. So verweisen manche Verteidiger des antiken Klassikers gerne zum Versuche des Beschwichtigens auf Platons spätere Selbstkritik im Parmenides, wo einige Aussagen zur Ideenlehre, wie sie sich in der Politeia finden, abgeschwächt, wenn auch nicht völlig aufgegeben werden. Nur, was ist damit schon besagt? Vielleicht, dass selbst noch der aufreizendste Denker nach Jahren der Enttäuschung resignierend und deswegen verträglicher wird? Dass mit fortschreitendem Alter der Nonkonformist sich zum Konformisten wandelt, weil dem gesetzter werdenden Manne der Kampfeswille abhanden kommt?

Thomas Alexander Szlezák gibt im erläuternden Kommentar zur im Jahre 2003 bei Artemis & Winkler herausgebrachten Neuauflage der Politeia zu bedenken, dass Poppers Groll gegen Platon wohl überzogen sei und solche unhistorische Polemik heute überflüssig sei, denn "parallel zum weltweiten Sieg der offenen Gesellschaftsformen sehen wir multikulturelle Staatsgebilde in vier Kontinenten unter Gewalt und Bürgerkrieg zerfallen". Sodann macht jedoch auch Szlezák einen - ich meine unnötigen - Rückzieher vor dem großen Sir Karl Popper, indem er anmerkt: "Platons rigorose Erwägungen zur staatlichen Einheit können angesichts dieser Lage gewiss keine Anleitung zum Handeln sein, wohl aber einen Anstoß geben zur prinzipiellen Besinnung auf die unabweisbare Frage, wie viel Einheit eine Gesellschaft braucht, um den Rechtsstaat wahren und Gewaltanwendung dauerhaft ausschließen zu können." Dazu stellt sich die simple Frage: Warum sollten Platons rigorose Erwägungen zur staatlichen Einheit eigentlich keine Anleitung zum Handeln sein? Nun, darauf ist noch kurz einzugehen.

Es ist nur zu deutlich. Platons Staatsutopie ist vielen seiner philosophischen Geistesgenossen peinlich und zwar dies einfach deswegen, weil sie in mannigfaltiger Hinsicht unmodisch und deswegen ungehörig ist. Man betont zur Rufpflege des antiken Philosophen zwar allemal, fast schon manisch zwanghaft, den progressiven Aspekt einer vollständigen Gleichstellung der Frau im idealen Staat, und dies nämlich in einem Ausmaß angelegt, wie es in den fortschrittlichsten Staaten noch lange nicht erreicht ist, doch schweigt man zugleich zur unzeitgemäßen Idee der Philosophenherrschaft in allen ihren Facetten, einschließlich der "sozialistischen" Lebensgemeinschaft, der Geschlechtergemeinschaft und folglich der Zerstörung der Familie und weiß wenig Positives zu sagen zur Idee einer fürsorglichen Kulturpolitik und zur Idee eugenischer Zuchtauslese, deren Ziel es ist, durch "gute Zucht" erbschädigende aber auch Erbgut verunreinigende Einflüsse auszuschalten sowie positive Tendenzen humanbiologischer Art zu verstärken. Letzteres - ein zugegebenermaßen äußerst brisantes Thema - wäre natürlich sachlich auszudiskutieren, was unter verständigen und gesprächsbereiten Menschen möglich sein müsste. Überaus erfreulich wäre es zu diesem Behufe, ein Natur- und Lebensforscher vom Format eines Konrad Lorenz würde sich der heiklen Sache herzhaft annehmen und solcherweise den biologischen Aspekt im menschlichen Dasein richtig stellen helfen. Man könnte so manchen Irrtum aufklären, um den heilsamen Gedanken der Politeia sodann langsam zur Entfaltung zu bringen. Dass dem zurzeit leider nicht so ist, ist schade, denn die Politeia sollte in ihrer faszinierenden Gesamtheit als gangbarer Ansatz zu einer besseren Lebensordnung gewürdigt und ernst genommen werden. Eine Gesinnungspflicht der Selbstkastration im Denken dürfte dabei nicht die gängige Praxis sein. Vergleicht man nämlich nur einmal ohne Übung intellektueller Zurückhaltung Platons wohlgestalte Staatsutopie mit der realen Verfassung politischer Herrschaft in den Gegenwartsgesellschaften, wo, wie schon gesagt, in den allerseltensten Fällen Tugendhaftigkeit eine ernsthafte Rolle spielt, diese anhaltend nur zum Zwecke der Manipulation des Wählerwillens zum Schein inszeniert wird, also man wesentlich Schein statt Sein produziert, wo Mechanismen der Negativauslese und nicht Tüchtigkeit im Sinne der vier platonischen Kardinaltugenden den Politfunktionär zur Machtposition geleiten, wo demokratische Verfahren eben nur zum Schein für ein in Unmündigkeit verharrendes Staatsvolk aufgeführt werden, hohler Ritualismus an die Stelle einer postulierten herrschaftsfreien Diskussionskultur tritt, wo keineswegs höhere politische Kultur gelebt wird und sich nur der geringste Teil um die jeweils beste Lösung bemüht, sondern allemal nur Klientelpolitik beabsichtigt ist, wo genau genommen eine zweifelhafte Auswahl des dritten [wirtschaftlich produktiven] Standes nach Maßgabe ihres Profitkalküls über Gedeih und Verderb des Gemeinwohls entscheidet und dies dann in aller Regel ohne Bedacht auf ethische und ästhetische Erwägungen, so muss man schon fragen, warum Platons philosophische Vision einer gerechteren Gesellschaft nicht [zur Behebung der skizzierten Misere] als erstrebte Wirklichkeit wünschenswert sein sollte? Sehr wohl, seine Staatsutopie ist antidemokratisch, und somit ehrlicher als so manches verlogene Bekenntnis zur Demokratie, doch seine alternative Vorstellung von Aristokratie ist vergeistigt und frei von aller Dekadenz, die dem wohlgeborenen Blutadel verflossener Zeiten hingegen ebenso anhaftete wie den politischen Eliten unserer Tage. Es ist denn auch seine ebenfalls in der Politeia thematisierte Seelenlehre, von der einst noch Sigmund Freud zehrte, die den natürlichen Adel - den Geistesadel - am Menschen zu erfassen und sodann über die Zuchtauslese und Pädagogik zu pflegen sucht, welche eine Vorstellung von wirklicher Hochgeburt vermitteln hilft. Die charakterlich und geistig Besten sollten als Geistesadel herrschen, wer will DAS eigentlich bezweifeln? Und wie könnte man vernünftigerweise in Abrede stellen, dass es der biologischen aber auch der psychologischen Hygiene bedarf, als wie auch einer besonderen Lebensart, will der Stand der Besten sein allezeit drohendes moralisches wie menschliches Siechtum, also den beinahe schon eigengesetzlich festgelegten Niedergang aller Annäherungen an das Vollkommene, abwenden. Aus Platon spricht lediglich tiefe Sorge um die Wirklichkeit der "Idee des Guten", wenn Andere meinen, aus seinen Worten den Tonfall einer Propaganda für den Totalitarismus in Gestalt der mörderischen Ideologien des Nationalsozialismus und des Stalinismus herauszuhören.

Platons Staatslehre gilt heute in ihren Kernthesen als politisch unkorrekt, dies wohl auch mehrerer unsachlicher Anfeindungen wegen, nichtsdestotrotz sollte eine an ihrem eigenen Wohlergehen interessierte Gemeinschaft mündiger Bürger, unbeirrt von aller fahrlässigen bis bösartigen Polemik, sich nicht mit einer bloß akademischen Diskussion platonischer Inhalte abfinden, sondern nach ihrer Realisierung im Hier und Jetzt, und wenn schon nicht im Jetzt so doch im Morgen, streben. Der Weg dorthin mag mühsam sein, denn weder sind in diesen Tagen die Herrschenden Philosophen, noch werden die wirklich Herrschenden ernstlich geneigt sein, einer vermittels ihrer Sachkundigkeit legitimierten Herrschaft tugendlicher Philosophen freiwillig zu weichen. Trotzdem, und bei aller Ungemächlichkeit, die ein wie immer gearteter Versuch verheißt, es löhnte sich gewiss, den Weg, den die Politeia uns weist, herzhaft zu beschreiten. "Der Staat" ist ein Buch, das mehr ist als eine bloße Erquickung für vergnügliche Stunden intellektueller Lustbarkeit. Platons "Der Staat" ist der nobelste Gedanke zur Wirklichkeit der Utopie eines unvergänglichen Gesellschaftsmodells, dessen sittliche Überlegenheit darin besteht, dass die menschlichen Qualitäten der Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit, kumuliert in der "Idee des Guten", allem Anderen übergeordnet werden. Eine wahrlich edle Verfügung von humanistischer Güte in Zeiten eines weltweit tobenden Wirtschaftsliberalismus ohne Sinn und Moral.

(Bruno Van der Walden; 08/2004)


Platon: "Der Staat"
Übersetzt von Rudolf Rufener, hrsg. von Thomas A. Szlezák.
Artemis & Winkler, 2003. 564 Seiten.
ISBN 3-7608-4106-6.
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Über die Vorgeschichte des attischen Staatswesens