Akif Pirinçci: "Der eine ist stumm, der andere ein Blinder"


Ein Thriller, der uns die Sprache verschlägt?

"Akif Pirinçci ist ein verstörender und an die Grenzen zum Tabubruch gehender Thriller gelungen", schreibt der Rotbuch Verlag auf der Umschlagrückseite des Romans "Der eine ist stumm, der andere ein Blinder". Der Satz lässt jede Menge Spielraum, welcher nur durch die Fantasie des Lesers eingeschränkt wird - und weckt hohe Erwartungen. In Zeiten der (fast) tabulosen Nachmittagsfernsehplappersendungen und des ausufernden Exhibitionismus mediengeschaffener Prominenter ist die Auswahl bedenklich geschrumpft. Es stellt sich also die berechtigte Frage: Kann der Thriller die geschürten Erwartungen erfüllen?

Juch und Opi
Die Handlung dreht sich um zwei Kommissare, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Diese müssen in Akif Pirinçcis neuem Thriller "Der eine ist stumm, der andere ein Blinder" versuchen, ein Dutzend Kinder aus den Fängen eines Soziopathen zu befreien.

Zwölf Kinder wurden entführt, verschwanden spurlos, jeweils im Abstand eines Monats. Keine Lösegeldforderungen, keine Spuren. Die schnell einberufene Sonderkommission kann trotz intensiver Suche außer Kosten nichts vorweisen. Und dann geschieht das Unfassbare: Nachdem ein Jahr verstrichen ist, taucht das erste der entführten Kinder wieder auf: nackt - den Körper bis auf die Knochen zerfleischt durch Peitschenhiebe - tot. In seiner Not wendet sich Kommissariatsleiter Hartmut Weinstein an seinen besten Mann, Claudius, ein Urgestein von einem Polizisten. Es gibt da nur einen klitzekleinen Haken - Claudius weilt seit acht Monaten in einer psychiatrischen Anstalt und macht keinerlei Anstalten, diese zu verlassen.

Doch so ganz traut Weinstein seinem As nicht, und so teilt er dem Einzelgänger Claudius einen Partner zu, der neben den Ermittlungen auch ein Auge auf ihn haben soll.
Einen stärkeren Kontrast zu Claudius könnte dieser kaum darstellen, handelt es sich bei Hugo "Hugh" - oder Juch, wie er liebevoll von Claudius gerufen wird - Hoffer um das Werbeprospekt-Abziehbild schlechthin. Im Gegensatz zu seinem neuen Chef, der in Aufmachung und Statur einem Zeitreisenden aus den Heinz-Erhardt-Fünfzigern ähnelt, trägt er einen Designer-Anzug, fährt einen Mercedes-Raucherfreiezone-Dienstwagen und lebt in seinem heimeligen, aus dem "IKEA"-Katalog eingerichteten Appartement; selbstverständlich ist er ein großer Frauenheld und eifert, bis auf die Eheschließung, seinem großen Vorbild Hugh Grant nach.

Taube Nuss oder blindes Huhn?
Auf den ersten 24 Seiten des 412 Seiten starken Romans werden wir detailliert mit Hugo vertraut gemacht - seinen Gedanken, seinen Gefühlen, seinen Zielen, seinem Frauenbild etc. Dann demontiert der Autor dieses Bild im weiteren Verlauf des Romans Stück für Stück, bis sich gegen Ende der Lektüre die der Figur zugeschriebenen Eigenschaften als Illusion entpuppen und Hugo sich am Anfang des Weges sieht, den Claudius schon bis zum bitteren Ende gegangen ist. Diese Entwicklung ist, rein durch die geschilderten Ereignisse, schwer nachvollziehbar, wirkt aufgesetzt und scheint nur dazu zu dienen, den Charakter menschlicher und sympathischer zu machen. Doch warum so kompliziert, wenn es auch einfach ginge ...?

Dieses Problem zieht sich durch das gesamte Buch. Es werden falsche Fährten gelegt, verschiedene gesellschaftliche Probleme wie Kinderpornografie, Ausländerintegration, soziale Brennpunkte usw. angesprochen. Doch all dies führt weder zu einer stärkeren Bindung an das Buch, noch zu einer glaubhaften Charakterentwicklung, noch zur Lösung des Falles. König Zufall spielt hier eine viel größere Rolle, und dies hat weit reichende Konsequenzen. 368 von 412 Seiten zittert man mit - nur um dann auf den letzten die Lösung auf dem Präsentierteller serviert zu bekommen. Hugo geht in eine Kneipe, und ein Rentner lässt nebenbei ein paar Worte fallen, die den Fall auflösen - gleichzeitig besucht Claudius seine Ex-Frau, die ihn mit einer Porno-DVD in der Hand empfängt und mit einem frivolen Lächeln sagt: "Tja, mein Lieber, ist schon ein Weilchen her, dass wir den Küchentisch für solcherlei Späße missbraucht haben".
Von der Hülle der DVD springt ihm förmlich ein bekanntes Gesicht entgegen. Dieser eine Blick auf die Pornohülle reicht aus, den gesamten Fall zu lösen.
Über all diese Ungereimtheiten könnte man noch hinwegsehen, gäbe es ein furioses Finale zwischen dem Kommissar und dem Psychopathen. Doch was uns Akif Pirinçci hier vorsetzt, grenzt schon an Verballhornung. Er lässt einen seit Jahren schwerst Heroinabhängigen, der gerade auf der Jagd nach dem nächsten Schuss ist und unter massiven Entzugserscheinungen leidet, mit einem solch abenteuerlichen Konstrukt den Retter spielen, dass man das darauf folgende rührselige Ende schon fast widerspruchslos hinnimmt.

Und um die zu Anfang gestellte Frage noch zu beantworten: Die durch den Verlagstext geschürten Erwartungen werden erfüllt - zumindest der Teil, der "verstörend" wirkt. Nur wird der Verlag das nicht so gemeint haben, wie es der Kritiker auslegt.

(Wolfgang Haan; 06/2006)


Akif Pirinçci: "Der eine ist stumm, der andere ein Blinder"
Rotbuch Verlag, 2006. 412 Seiten.
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