Carl Friedrich von Weizsäcker: "Große Physiker"

Von Aristoteles bis Werner Heisenberg

Die großen Fortschritte der Wissenschaft geschehen nicht, indem man ängstlich am Beweisbaren klebt. Sie geschehen durch kühne Behauptungen, die den Weg zu ihrer eigenen Bestätigung oder Widerlegung selbst erst eröffnen.

(Carl Friedrich von Weizsäcker)


Philosophische Betrachtungen zur Entwicklung der Physik

In seinem Buch "Große Physiker" reflektiert Carl Friedrich von Weizsäcker die Geschichte der Naturforschung von der antiken Naturphilosophie bis zur modernen Physik des 20. Jahrhunderts anhand der Lehren ihrer bekanntesten Persönlichkeiten. Dabei ist seine Perspektive die des Wissenschaftsphilosophen. Er thematisiert nicht die mathematischen Grundlagen der physikalischen Theorien, sondern im Vordergrund steht die Tragweite der Erkenntnisse für das Weltbild der jeweiligen Epoche. Da v. Weizsäcker die Entwicklung der Physik des 20. Jahrhunderts miterlebt hat und die führenden Physiker des 20. Jahrhunderts persönlich kannte, fließen zahlreiche Erinnerungen in seine Beschreibungen ein.

In den ersten Kapiteln arbeitet v. Weizsäcker die Bedeutung der griechischen Naturphilosophen Parmenides, Platon und Aristoteles heraus. Die Frage, warum sich ein Physiker der Neuzeit mit der antiken Philosophie beschäftigt, beantwortet v. Weizsäcker wie folgt: "Ich hätte mich nicht dem Studium der antiken Philosophie zugewandt, wenn ich nicht in den begrifflichen Traditionen der neuzeitlichen Physik und Geisteswissenschaft und der neuzeitlichen Philosophie auf Unbegreiflichkeiten gestoßen wäre, die ich nur im Rückgang auf ihre historischen Quellen zu verstehen hoffen konnte."

Es folgen Ausführungen zu den Arbeiten der Astronomen Nikolaus Kopernikus, Johannes Kepler und Galileo Galilei. Insbesondere Galilei (1564-1642) eröffnete mit seiner Abkehr vom aristotelischen Denken, der Beschreibung der Phänomene entsprechend der Alltagserfahrung, das Zeitalter der Wissenschaft. Er führte das von einer mathematischen Theorie geleitete wissenschaftliche Experiment ein und entwickelte Hypothesen, die mit der Alltagserfahrung nicht übereinstimmen. Einfache mathematische Beschreibungen des freien Falls und der Trägheit waren die Folge.

Mit René Descartes, dem Begründer der neuzeitlichen Philosophie, setzt sich v. Weizsäcker besonders kritisch auseinander. So hat Descartes zum Beispiel Geist und Materie scharf getrennt, und zwar so scharf, dass er nicht begründen konnte, wie sie denn zusammenhängen. Seine Wirbeltheorie zur Erklärung der Planetenbahnen wurde von Newton verworfen, dessen Principia die Naturwissenschaften der nächsten Jahrhunderte bestimmen sollten. Newton hat in den Naturwissenschaften das erreicht, was den Griechen in der Mathematik gelungen war, einen aus wenigen Axiomen hergeleiteten Aufbau. Seine natürlichen Erklärungen waren so mächtig, dass manche Zeitgenossen, entgegen Newtons eigener Meinung, keinen Raum mehr für eine religiöse Welterklärung sahen.

Bei seiner Analyse der "Kritik der reinen Vernunft" von Immanuel Kant greift v. Weizsäcker auf die Dissertation seines ehemaligen Schülers und Mitarbeiters Peter Plaass zurück, der sich ausführlich mit dem Thema "Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" beschäftigt hat. Von diesem Werk Kants distanziert sich v. Weizsäcker im Hinblick auf die heutige Physik ("Einzelne geniale Gedanken ... mögen wir bewundern, aber sie verpflichten uns nicht zur Gefolgschaft.").

Poetisch geht es im Kapitel über Johann Wolfgang von Goethe zu. Was bedeutet Goethe für die Naturwissenschaft? Carl Friedrich von Weizsäcker, so mein Eindruck, bewundert Goethes universellen Geist, seine Art und Weise die Welt zu sehen und zu beschreiben, wenngleich ihm klar ist, dass heutige Physiker Schüler Newtons und nicht Goethes sind.

Nach einigen interessanten Ausführungen zum Energiesatz (Robert Mayer, 1842), der die revolutionäre Entwicklung der theoretischen Physik im 20. Jahrhundert nicht unbeeinflusst, aber unerschüttert mitgemacht hat, verlässt v. Weizsäcker den Bereich der klassischen Physik. Wegbereiter der neuen Physik sind Albert Einstein, Niels Bohr, Paul Dirac und Werner Heisenberg, um ein paar der Namen zu nennen, deren Werke und Weltbilder v. Weizsäcker in seinem Buch vorstellt.

Die Auseinandersetzungen zwischen Niels Bohr und Albert Einstein kommen zur Sprache, aus denen letztlich Bohr als Sieger hervorging. Einstein konnte sich zeitlebens nicht mit der Aufgabe des klassischen Determinismus und der grundsätzlichen Reduktion der physikalischen Prognosen auf Wahrscheinlichkeiten abfinden, obwohl er selbst an der Quantentheorie beteiligt war. Einschneidend wirkte der Zweite Weltkrieg auf die internationale Gruppe der Atomphysiker, da die Entwicklung der Atombombe in greifbare Nähe gerückt war. Ehemalige Freundschaften, wie die zwischen Niels Bohr und Werner Heisenberg, wurden schwer belastet.

Im letzten Kapitel skizziert v. Weizsäcker ausführlich seine philosophische Interpretation der modernen Physik. Er glaubt an eine Vereinheitlichung der Physik und begründet dies ausführlich.

Es handelt sich bei "Große Physiker" nicht um ein populärwissenschaftliches Buch für den schnellen Überblick, sondern um ein aus früheren Vorlesungen und Erinnerungen an frühere Treffen zusammengesetztes anspruchsvolles Werk der Wissenschaftsphilosophie. Carl Friedrich von Weizsäcker geht ausführlich auf frühere naturphilosophische bzw. naturwissenschaftliche Lehren ein und zeigt insbesondere auch deren Grenzen auf. "Große Physiker" ist keine leicht verdauliche aber dafür lehrreiche Lektüre, aus der der interessierte Leser auch gezielt einzelne Kapitel herausgreifen kann.

In den 1930er Jahren gehörte Carl Friedrich von Weizsäcker zum Leipziger Kreis, in dem begabte junge Physiker aus verschiedenen Ländern zusammen arbeiteten, um an der Entwicklung der Quantenmechanik teilzunehmen. Werner Heisenberg war seinerzeit Professor an der Universität Leipzig. Ihm fiel insbesondere Carl Friedrich von Weizsäckers Kompetenz in philosophischen Fragestellungen auf (s.h. auch "Der Teil und das Ganze" von Werner Heisenberg).

Carl Friedrich von Weizsäcker, 1912 in Kiel geboren, war nach langjähriger Lehrtätigkeit an den Universitäten Straßburg, Göttingen und Hamburg 1970 bis 1980 Direktor des Max- Planck- Instituts zur Erforschung der wissenschaftlich- technischen Welt.

(Klemens Taplan; 10/2004)


Carl Friedrich von Weizsäcker: "Große Physiker. Von Aristoteles bis Werner Heisenberg"
Marixverlag, 2004. 376 Seiten.
ISBN 3-937715-46-0.
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