Leo Perutz: "Der schwedische Reiter"

Wundersam bunt und düster zugleich schildert Perutz die Welt in "Der schwedische Reiter", der den Leser im Nu in die Zeit um 1700 versetzt. Der Roman erzählt vom verflochtenen Schicksal zweier ungleicher Männer: Krieg und Barbarei beherrschen die Szenerie, in der ein namenloser Vagabund und der desertierte schwedische Offizier Christian von Tornefeld aufeinander treffen. Der eine nimmt mit List und Tücke, aber ebenso aus Liebe zu einer jungen Frau die Identität des anderen an ...


Das Populärste von oder in Zusammenhang mit Leo Perutz ist wohl das Torbergsche Bonmot, wonach er einem Seitensprung Agatha Christies mit Franz Kafka entstamme. Je mehr man sich mit diesem einst bekannten, danach verdrängten, sodann vergessenen und nun wieder entdeckten Schriftsteller auseinandersetzt, desto unhaltbarer erscheint dieses Diktum, ja es lässt sogar die Frage aufkommen, ob Torberg überhaupt irgendein Werk Perutzens gelesen habe. Sicher versteht es Perutz, sehr spannend zu erzählen, auch ist ihm das Genre des Kriminalromans nicht ganz fremd, aber selbst der "Meister des jüngsten Tages" hat mit Agatha Christie so viel oder so wenig zu tun, wie Ravels "La Valse" mit dem Straußschen Urbild. Und Kafkas abstrakte Welt steht Perutz überhaupt völlig fern. Wenn schon Vergleiche notwendig sind, und sie sind es in einer Romanrezension, in der sich nicht nur die Wiedergabe des Handlungsgerüstes, sondern sogar ein oberflächliches Eingehen darauf verbietet, denn jedes unnütze Vorwissen verdirbt Spannung und Überraschungsmomente, gerade bei diesem in dieser Hinsicht so reichen Roman, wenn also schon Vergleiche, dann meines Erachtens mit dem frühen Heimito von Doderer, mit dem einige bemerkenswerte Berührungspunkte bestehen: die fabelhafte (im wahrsten Sinne des Wortes), barock anmutende Erzähl-, oder besser eben: Fabulierkunst, mit der es gelingt, dass dem Leser die doch ziemliche Unplausibilität des Geschilderten völlig unauffällig bleibt, die Betonung des "Schicksalshaften" (egal wie verwickelt die Handlung sich im Detail präsentiert - summa summarum geht der Weg der Helden immer oder zumindest zuletzt dieselbe, schon zu Beginn vorgezeichnete lineare Richtung, die auch kein Leser zu irgendeiner Zeit in Zweifel gezogen hat; hierin ähnelt der "Schwedische Reiter" ungemein Doderers "Der Umweg", und eine gewisse Vorliebe für das Genre des historischen Romans.

Darüber hinaus verschließt sich "Der schwedische Reiter" näherer Betrachtung, denn alles weitere wäre schon zu viel verraten. Die Schwierigkeiten, diesen Roman in ein Schublädchen einzuordnen, ihn zu klassifizieren, zu katalogisieren, zumal er die Elemente so vieler verschiedener Genres in sich trägt, können hier deshalb nicht zweckdienlich erörtert werden, weil die Ungewissheit darüber vom Autor sozusagen eingeplant wurde, eine der vielen originellen Ideen dieses Romans. Mehr darüber kann im sehr intelligenten Nachwort gelesen werden, wie gesagt, NACH der Lektüre des Romans. Was dieses Nachwort betrifft, erscheinen mir auch im Wissen, dass der "normale" Leser dieser Rezension, der also weder Roman noch Nachwort gelesen hat, vorläufig keinerlei Nutzen daraus ziehen kann (aber glücklicherweise ob der für ihn bestehenden Zusammenhanglosigkeit dieser Ausführungen auch keinen Schaden nehmen kann), zwei Anmerkungen anbringenswert:
a) Die Meinung, dieser Roman sei "morallos" oder spiele sich fernab jeder moralischen Ordnung ab, kann ich nicht teilen. In kaum einem anderen Werk wird so viel über Moral, über Gut und Böse reflektiert. Gewiss, die getroffenen Bewertungen sind sehr EIGENWILLIG und auch zweifelhaft, sie stellen in Frage, was in der Hegemonialsprache als law and order bezeichnet wird, ja mitunter sogar ein bisschen mehr, sehen sehr großzügig über gewisse schwere Verbrechen (sogar Mord) hinweg, sind aber plötzlich wieder von unerbittlicher Strenge, vor allem im Gottesgericht,
womit wir bei Punkt b) sind. Wie unter a) ausgeführt, erscheint dieses Gottesgericht sehr eigenwillig, aber "blasphemisch" ist es ganz sicher nicht. Abgesehen davon, dass ein Mord sozusagen unter den Teppich gekehrt wird (Gott ist ja bekanntlich nicht kleinlich), erscheint es in seinen Welt und Reichtum abgewandten Grundgedanken geradezu jesuitisch. Noch wichtiger erscheint mir jedoch, dass der Autor des Nachwortes dieses Gottesgericht schwer verkennt. Tatsächlich ist es nicht so, dass es, wie er meint, für den weiteren Handlungsablauf völlig unkausal bleibt, vielmehr birgt es bei näherer Betrachtung das Todesurteil in sich, indem es den auf längere Sicht einzig möglichen Fluchtweg des Verurteilten versperrt. Beim Versuch, diesen Fluchtweg zu betreten, ereilt den Verurteilten letztendlich auch sein Schicksal.

Nun, damit ist eigentlich schon zuviel gesagt, aber das bringen Rezensionen nun mal mit sich. Man kann ja nicht nur folgenden Satz schreiben: "Der schwedische Reiter" ist ein hervorragender Roman und sollte unbedingt gelesen werden.
Obwohl er der wichtigste und auch richtigste Satz dieser Rezension wäre.

(Franz Lechner; 03/2004)


Leo Perutz: "Der schwedische Reiter"
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller.
Gebundene Ausgabe:
Zsolnay, 2002. 256 Seiten.
ISBN 3-552-05213-5.
ca. EUR 19,90. Buch bestellen
Taschenbuch:
dtv, 2004. 256 Seiten.
ISBN 3-423-13160-8.
ca. EUR 9,50. Buch bestellen

Ergänzende Buchtipps:

Leo Perutz: "Nachts unter der steinernen Brücke"
In der magischen Mitte dieses raffiniert konstruierten Romans steht die legendenumwobene Gestalt des hohen Rabbi Loew. Er allein ist es, der das Rätsel um eine verborgene Schuld lösen kann, als 1589 der Zorn Gottes sich über der Prager Judenstadt entlädt und ein großes Kindersterben hereinbricht. Ratsuchend beschwört er übernatürliche Mächte und die Spur führt zu ihm selbst - zu jener Nacht, unter der steinernen Brücke. Vom zaubermächtigen Rabbi gepflanzt, neigen sich dort ein Rosmarin und ein Rosenstrauch zueinander.
Und dann glaubt Kaiser Rudolph II. auf der Prager Burg, die schöne Esther, Frau des reichen Financiers Meisl, in den Armen zu halten. Im Bannkreis dieser Liebe und schuldhaften Verstrickung steht ein ganzer Mikrokosmos: All die bunt gemischten Gestalten, die die winkeligen Gassen des alten Prag, seine Spelunken und Paläste bevölkern, Alchemisten und Wahrsager, Künstler und Narren, Feldherren und Bettler, geraten in schicksalhafte Berührung mit den Ereignissen um den Rabbi, den Kaiser, seine Geliebte und ihren Ehemann. Doch keine der handelnden Figuren durchschaut das komplexe Geflecht von Schuld und Sühne, von Ursache und Wirkung.
Nur der Leser überblickt - souverän und quasi gottgleich an der Seite des meisterhaften Erzählers Perutz - das ganze kunstvolle Muster, das lebendige historische Tableau, die zaubervolle versunkene Welt.
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"Der Meister des jüngsten Tages"
"Wisse, dass geschehene Dinge niemals ein Ende haben."
Das sagt im Jahre 1532 in Florenz der Arzt und Chemiker Salimbeni. Und im Jahre 1909 in Wien bewahrheiten sich seine düster-prophetischen Worte. Gleich mehrere Personen begehen Selbstmord, sämtlich unter den gleichen rätselhaften Umständen und - das ist das Unheimlichste - ohne jedes Motiv.
War es doch Mord? Ich-Erzähler Freiherr von Yosch, selbst in einem der Fälle in Verdacht geraten, stellt Nachforschungen an. Wie in Ecos "Name der Rose" führt die Spur zu einem Buch, einem alten Folianten, der das gefährliche Geheimwissen des Salimbeni enthält. zur Rezension ...
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LESEPROBE:

Zwischen zwei Dragonern, die Wachslichter trugen, stieg der Dieb mit gebundenen Händen hinter dem Malefizbaron die Treppe hinauf, und nun, da die Sache so weit gediehen war, daß er endlich den Herrn von Krechwitz sehen sollte, plagte ihn die Neugierde noch mehr als zuvor, denn da war ein neues Rätsel: Warum hatte der Malefizbaron, den er als seinen Todfeind und Erzverfolger in die Türkei hinein verwünschte, warum hatte dieser Malefizbaron so wüst gelacht, als er, der Dieb, sagte, er käme von der Herrschaft ihrem Patenkind? Und die Magd, die mit dem Malefizbaron im Bett gelegen war: "Du armer Mann, die Herrschaft hat nirgends in der Welt ein Patenkind!" - Warum? Wie mußt' ein Mensch beschaffen sein, der nirgends in der Welt ein Patenkind hatte? Hat doch der ärmste Tagwerker eines. War dieser Herr von Krechwitz so wüst und ungeschaffen, daß keine Mutter ihr Kind von ihm wollt' aus der Tauf heben lassen? Oder war er am Ende kein Christ? Saß ein Türke, ein Tatar, ein Mohr als Herr auf diesem Gut? Oder war er so geizig, daß es ihm leid war um den Tauftaler, oder ...?
Der Dieb blieb vor Überraschung einen Augenblick lang stehen. Jetzt hatt' er es, jetzt wußte er es, und wären ihm nicht die Hände hinter dem Rücken gebunden gewesen, so hätte er sich mit ihnen vor den Kopf geschlagen. Jetzt war ihm alles klar. Und nun verstand er auch, warum auf diesem Gut niemand ehrlich war und keine Zucht und Ordnung unter den Knechten, und die Acker verdorben und im Stall die Milzseuch' - und er schalt sich einen Dummkopf und einen Narren, weil er das nicht schon langst erraten hatte. "Ein kleines, armes Lämmchen, von dem nimmt jedermann leicht Wolle", sagte er zu sich mit einem grimmigen Lachen und ballte die Fäuste, und da stand er auch schon vor einer halb geöffneten Tür, der Malefizbaron klopfte an und trat dann mit dem Anstand und der Sicherheit des Edelmannes in das Zimmer der Herrschaft, und hinter ihm stießen die beiden Dragoner den Dieb hinein.
Ja, es war so, wie er es vermutet hatte. Ein Kind stand im Zimmer, ein junges Kind, ein Mädchen von nicht mehr als siebzehn Jahren, schmal und zart und wie die heilig erschaffenen Engel so schön - das war die Herrschaft auf dem Gut Kleinroop. Sie hatte Tränen in den Augen, das sah der Dieb sogleich, und ihr gegenüber stand, an den Kamin gelehnt, der Knebelbart, der adelige Wucherer, der Freiherr von Saltza auf Düsterloh und Pencke, dem der Rentmeister den Jagdhund und das Reitpferd der jungen Herrschaft verkauft hatte.
Der Malefizbaron stand, mit dem Federhut in der Hand, breitbeinig da und grüßte.
"Komm' ich zur Unzeit?" begann er. "Ich hoff' Entschuldigung zu finden, daß ich die hochgeborene Demoiselle zu dieser späten Stunde inkommodier', muß aber morgen schon mit dem allerfrühesten zu Pferd und fort, hätt's für eine Schand' erachtet, wenn ich der Demoiselle nicht zuvor noch meine Aufwartung gemacht hätt', hoff' auch für mich auf ein kleines Plätzchen in der Demoiselle ihrer Erinnerung."
Das Mädchen lächelte und beugte ein wenig den Kopf.
"Der Herr erweist mir große Ehr', es ist zu viel", sagte sie mit einer zarten und leisen Stimme. "Hab' mit Leid vernommen, daß der Herr will fort. War der Herr nicht zu seiner Zufriedenheit logiert?"
Der Dieb sah sie unverwandt an. Alle seine Pläne waren zunichte geworden.
"Es ist ein Jammer", sagte er leise zu sich selbst. "So jung ist sie, wenn ich ihr sag', daß ich hinter ihrer Knechte Diebsgriffe und Schelmenstücke gekommen bin, sie wird's nicht glauben, sie ist ein Kind, sie meint, die Welt wär' ehrlich. Und wenn ich ihr die Rechnung mach', daß sie könnt' sich und ihre Leut' von der Milch und dem Federvieh allein ernähren und noch einen Überschuß auf den Markt bringen, sie wird's nicht glauben, ihr Rentmeister hat ihr's anders gesagt, da wär' jedes Wort vergeblich gesprochen. Aber schön ist sie, ich mein', ich hab' all meine Tage nichts Schöneres gesehen."
"Ich bin exzellent logiert gewesen, konnt's mir nicht besser wünschen", sagte indessen der Malefizbaron mit einer Verbeugung. "Es war alles aufs beste geordnet und à point. Muß aber dennoch fort, denen Malefizgesellen incontro und auf den Pelz. Wir haben den schwarzen Ibitz und seine Bande umstellt im Fuchsengrund, ich muß zu meinen Leuten, denn morgen, wenn der Tag anbricht, da geht das große Hetzen und Jagen an."
"So geht's in der Welt zu", murmelte der Dieb, der zwischen den beiden Dragonern bei der Türe stand. "Den Räubern im Fuchsenloch, denen rückt er mit Strick und Beil auf den Leib, und sind doch nur arme Leut', die Räuber aber hier im Haus, die in ihrem Übermut das Gut der Herrschaft verprassen, die sieht er nicht, die läßt er ungeplagt."
"Ich wünsch' dem Herrn Hauptmann, daß er die Sach', dieu aidant, zu einem guten Ende bringt", sagte das Mädchen. "Sie haben es arg getrieben, der Ibitz und seine Bande, hier im Land und drüben im Polnischen, Fuhrleut' überfallen, den Bauern ihre Kühe weggetrieben - alle Tage hat man davon reden gehört. Der Herr Hauptmann ist wahrhaftig ein anderer Ritter Georg."
"Sind doch nur arme Leut'", murmelte der Dieb, während sich der Hauptmann, stolz über dieses Lob, seinen buschigen Schnurrbart strich. "Hätten sie zur rechten Zeit jeder einen Bissen Brot alle Tage gehabt und ein Strohdach über dem Kopf, so wären sie ehrlich geblieben. Aber so geht's in der Welt zu! Das Gesinde hier im Haus ..."
"Ich bitt' die Demoiselle um Urlaub", sagte jetzt der Knebelbart mit knarrender Stimme. "Ich muß dazusehen, daß ich zu guter Zeit nach Hause komm'. Und wenn die Demoiselle ihre Opinions sollt' ändern, so wird sie mich auch morgen noch parat und zu ihrer Disposition finden."
"Wenn mir nur der Herr Pate wollt' den Jason und die Diana lassen", sagte das Mädchen, und wiederum traten ihr die Tränen in die Augen.
"Die Demoiselle könnt' haben Reitpferd' genug", meinte der Knebelbart. "Steht nur bei ihr. Auch schöne Kleider, Ketten, Ringe, alle Tage Gäste und in der Gesellschaft groß mitspielen - steht alles nur bei ihr."
"Ich bin betrübt, daß ich dem Herrn Paten seinen Willen nicht kann tun", sagte das Mädchen und ihre Stimme bekam jetzt einen festen Klang. "Der Herr Pate weiß, daß es nicht sein kann. Da müßt' eher die Sonne ihren Lauf verlassen. Hab' einem anderen mit dem Herzen und der Hand die Treu' versprochen, auf den will ich warten und, wenn es sein müßt', bis zum Jüngsten Tag."
"Ich wünsch' der Demoiselle viel Glück zu diesem Entschluß", sagte der Knebelbart kurz und in trockenem Ton. "Bis dahin halt' ich mich der Demoiselle empfohlen. Ist angespannt?"
"Mögen alle Engel sie behüten!" flüsterte der Dieb entsetzt. "Will dieser lose alte Bube sie zur Liebsten haben? Er paßt zu ihr wie der Kienruß zum weißen Schnee."

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