Samuel Pepys: "Die geheimen Tagebücher"

(Hörbuchrezension)

... aus der von Volker Kriegel und Roger Willemsen herausgegebenen Buchausgabe, ausgewählt und vorgetragen von Roger Willemsen


Volker Kriegel, der im Jahr 2003 viel zu jung verstarb, wollte eine Ausgabe der "Geheimen Tagebücher" von Samuel Pepys für Leser - und nicht für Wissenschafter. Ihm, der mit "Olaf, der Elch" ein unvergessliches Buch für Kinder und Erwachsene geschaffen hat, ist es zu verdanken, dass es nicht bei wissenschaftlichem Kauderwelsch in puncto Samuel Pepys blieb. Als Volker Kriegel bereits schwer krank war und wusste, nicht mehr lange zu leben, war er dennoch Tag für Tag bereit, sich mit den "Geheimen Tagebüchern" auseinander zu setzen. Seine Begeisterung blieb ungebrochen, und nach seinem Tod übernahm Roger Willemsen die Herausgebertätigkeit, und die Kontinuität des Projektes wurde von vielen seiner Freunde und Trabanten der "Neuen Frankfurter Schule" gesichert.

Das Besondere an den "Geheimen Tagebüchern" von Samuel Pepys ist gerade das "Geheimnisvolle". Der Mann wollte nämlich nie und nimmer, dass seine Aufzeichnungen veröffentlicht werden. Er kritzelte zehn Jahre lang seine Tagebücher mit Notizen voll, die auf eine erstaunliche Weise Zeugnis von der Zeit, in der er lebte, ablegten. Von Beruf Flottenadministrator, hatte er viel Freizeit und war an allerlei Künsten und Wissenschaften interessiert. Es gibt anscheinend fast nichts, das sein Interesse nicht erregt hätte. Der den CDs beigefügte Essay von Willemsen, "Der erste Privatmann", zeigt freilich die hintergründige Anschauungsweise des mittlerweile seinerseits zu hohen schriftstellerischen Ehren gelangten ehemaligen Nachtwächters und Fernsehgesprächsleiters. Ein Satz inmitten des Konvoluts sticht hervor und vermag sehr viel über die Eigenart der "geheimen Tagebücher" auszusagen:
"Die Versklavung durch Arbeit, wie sie mit der industriellen Revolution einsetzt, ist hier nicht einmal zu erahnen, und sie verschont auch später den Beamtenstand."

Tatsächlich hat Samuel Pepys - so scheint es - alle Zeit der Welt, um sich durchs Leben zu schlängeln. Sein Tag besteht nur zu einem kleinen Teil aus Arbeit; ansonsten gehen sich immer wieder kleine Liebeleien, ausgiebige Spaziergänge, reichhaltige Essen, Saufgelage und allerlei Gespräche aus. Arbeit ist ein Teil des Lebens, der an Bedeutung den anderen Komponenten nichts voraus hat. Die heutzutage oft propagierte menschliche "Definition durch Arbeit", wie sie zumindest in Industrieländern auftritt, wäre aus der Perspektive von Samuel Pepys und seiner Zeit eine merkwürdige "Science Fiction" gewesen, mit der er kaum etwas hätte anfangen können.

Der Tagebuchschreiber setzt sich mit allerlei Dingen auseinander und nimmt sich dabei kein Blatt vor den Mund. Er bleibt sogar in Bezug auf sich selbst objektiv. Für Willemsen haben diese "geheimen Tagebücher" eine Qualität an sich, an die selbst die berühmtesten sonstigen autobiografischen Notizen nicht herankommen. Schließlich verfolgte Pepys keinerlei Absicht und verstellte sich nicht. Er schrieb nicht, weil er der Nachwelt etwas hinterlassen wollte, sondern, weil er sein Leben für sich zu ordnen versuchte. Ein befreiender Furz hat für ihn eine ähnlich hohe Bedeutung wie ein Besuch beim König oder ein Theaterbesuch. Nichts drängt sich vor. Alles ist in sich geschlossen.

Nunmehr interpretiert Roger Willemsen mit seiner unnachahmlichen Stimme die "geheimen Tagebücher" und hat sich für jedes Jahr besonders markante Stellen herausgesucht. Es beginnt also im Jahr 1660 und zieht sich bis ins Jahr 1669. Zehn Jahre lang hat Samuel Pepys ungefähr 3100 Seiten vollgeschrieben (übrigens in Kurzschrift), um dann mit einem Mal damit aufzuhören. Zwei Gründe mögen für die plötzliche Beendigung seiner Tagebücher angeführt werden. Zum Einen seine Sehschwäche, die er in seinem allerletzten Eintrag auch zum Gegenstand seiner Auseinandersetzung macht. Er schreibt davon, aus seinem Augenleiden heraus nicht mehr die Konzentration aufbringen zu können, sich dem Tagebuch Schreiben zu widmen. Zum Anderen der Tod seiner noch jungen Frau. Davon schreibt er nichts in seinem Tagebuch. Er hat sie aber wohl sehr geliebt, und nach ihrem Tod mochte er nicht mehr jene "innere Flamme" in sich lodern gefühlt haben, welche ihn zum Schreiben angetrieben hatte.

Roger Willemsen bringt dem Hörer diesen ungewöhnlichen Menschen Samuel Pepys sehr nahe. Es ist ein wahres Vergnügen, diesem Mann zu lauschen und ganz in die Lebenswelt eines Menschen einzudringen, der nie die Absicht hatte, irgendeinem Leser auch nur eine Zeile über sein Leben zu verraten. Und ganz im Sinne von Roger ist gerade das die geheimnisvolle Kraft, welche von den Tagebuchaufzeichnungen ausgeht: Wir können einem Menschen über die Schulter schauen, der, sich unbeobachtet glaubend, seine Welt zu erklären und zu verstehen sucht. Es handelt sich hierbei um einen ungewöhnlichen Fall von Autobiografie, der als einzigartig in der Literaturgeschichte gelten mag. Dafür sei insbesondere Volker Kriegel und Roger Willemsen gedankt.

(Jürgen Heimlich; 04/2005)


Samuel Pepys: "Die geheimen Tagebücher"
Ausgewählt und vorgetragen von Roger Willemsen.
Kein & Aber; 2005. 2 CDs mit Beiheft, Laufzeit ca. 150 Minuten.
ISBN 3-0369-1154-5.
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Buchausgabe:
Herausgegeben von Volker Kriegel und Roger Willemsen.
Übersetzt und mit Anmerkungen von Georg Deggerich, 
mit Illustrationen von Beck, F.W. Bernstein, Robert Gernhardt u.a.
Eichborn, 2004. 416 Seiten.
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Leseprobe:

10. Februar 1661 (Tag des Herrn)
Den ganzen Tag Abführmittel genommen und mir - Gott möge es mir nachsehen - mit der Lektüre seichter französischer Liebesgeschichten die Zeit vertrieben. Abends mit meiner Frau von unserer Frankreichreise geschwärmt, die wir in diesem Sommer machen wollen.

6. April 1661
Mr. Townsend getroffen, der mir von seinem Missgeschick erzählte, dass er kürzlich versehentlich mit beiden Beinen in ein Hosenbein gestiegen und dann den ganzen Tag so herumgelaufen sei. Anschließend Mr. Creed und Mr. Moore ins Wirtshaus zum Mittagessen eingeladen. Nach dem Essen sah ich, wie die Tochter des Wirts, ein sehr hübsches Ding, in einer Kammer verschwand. Ich stieg ihr hinterher und küsste sie.


3. Februar 1667
In sehr angenehmer Gesellschaft zu Mittag gegessen. Wir unterhielten uns unter anderem über das große Feuer und über die Prophezeiungen des Nostradamus, von denen einige im "Bookers Almanach" für dieses Jahr abgedruckt sind. Außerdem erzählte Sir G. Carteret, wie Nostradamus auf seinem Totenbett die Stadt schwören ließ, seinen Leichnam niemals zu exhumieren oder sein Grab zu öffnen, was sie aber 60 Jahre später doch taten und auf seiner Brust eine Messingtafel fanden, auf der nicht nur zu lesen stand, was für durchtriebene und treulose Gesellen sie doch waren, seinen Frieden ungeachtet der geleisteten Schwüre zu stören, sondern auch der genaue Tag und die Stunde ihrer Tat, was tatsächlich höchst seltsam ist ...

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