Patrik Ouředník: "Die Gunst der Stunde, 1855"


Im Mahlstrom der Freiheit

"Aber wenn alle Meinungen gleich viel wert sind, wie wird man dann Entscheidungen treffen? [...] Aber wie kann ein Mensch von sich sagen, dass er frei ist, wenn es ihm nicht gelingt, einen anderen zu überzeugen, dass auch er frei sein könnte?" (Seiten 118f.).

Dieser Roman von Patrik Ouředník, den der Autor 2006 zeitgleich in französischer und tschechischer Sprache veröffentlichte, stürzt den Leser in die Geschichte des 19. Jahrhunderts. Es geht um die geeignete Stunde, den "günstigen Moment" (so der Titel der französischen und tschechischen Ausgaben), um die Alte Welt hinter sich zu lassen und in Brasilien eine neue Welt zu gründen, um den kurzen Abschnitt, an dem die revolutionäre Begeisterung noch lebendig, aber durch die reellen Persönlichkeiten der Revolutionäre bereits gedämpft ist.

Das Buch besteht aus zwei Teilen, die zwei unterschiedlichen Texttypen entsprechen: ein Brief umfasst fast das erste Drittel des Buches, daran schließt sich ein fragmentarisch erhaltenes Tagebuch an. Kein Vorwort oder Nachwort des Autors verbindet die beiden Teile, nicht einmal eine historische Anmerkung.

Der Brief stammt offensichtlich von einem alten und enttäuschten Mann, einem italienischen Tierarzt und leidenschaftlichen Anarchisten, der als Ideologe und Organisator der revolutionären Bewegung aktiv war. Er schreibt an seine Jugendliebe und berichtet ernüchtert nach rund einem halben Jahrhundert über die Gründung der freien Siedlung Fraternitas in Brasilien und das Scheitern dieses Projekts.

Das Tagebuch aus dem Jahr 1855 beschreibt die Reise der zukünftigen Siedler von Paris bis zur Ankunft in Rio de Janeiro und dann zusammenfassend die ersten Monate in der Ansiedlung. Der ungenannte und nicht besonders gebildete Schreiber, ebenfalls ein Italiener, berichtet von teils belanglosen Ereignissen während der Seefahrt, gibt revolutionäre Ansprachen und Gespräche unter den Passagieren wieder und versucht mühsam, die Ideologien der Anarchisten, Egalitaristen und Kommunisten auseinander zu halten.

Das Ideal des anarchistischen Sozialismus hebt sich in naiven, wenig reflektierten Tagebucheintragungen nur kläglich von der tatsächlichen Lebensweise der Auswanderer ab. Die Aussagen über die menschliche Natur und die erhoffte Freiheit, das verheißene Land und die Befreiung von der europäischen Knechtschaft werden immer hoffnungsloser und schaler - vor allem zeigen sich immer mehr Widersprüche zwischen den Anführern, dem autoritären Zeffirino, dem französischen Kommunisten Gorand und dem ewig unangepassten Decio. Die Kolonisten verlieren sich in nationalen Differenzen, im Versuch, die herrschaftsfreie Ordnung in Regeln zu fassen und vor allem in der zentralen Frage der freien Liebe, deren schwächelnde Praxis nicht zu den starken Fantasien passen will.

In den letzten Eintragungen im Tagebuch, die alle auf den 15. Oktober 1855 datiert sind, scheint die Zeit still zu stehen. Identische Satzteile tauchen immer wieder auf, beschreiben Ereignisse aus dem Alltag der Ansiedlung unter verschiedenen Blickwinkeln und erinnern immer mehr an ein Theater des Absurden.

Patrik Ouředníks präzise und dem Wandel der erzählenden Personen und Inhalte treue Sprache trägt die Handlung. Die Kolonie Fraternitas scheitert auch daran, dass ihre Anhänger die Weltanschauungen sprachlich nicht beherrschen.

"Die Gunst der Stunde, 1855" ist aber dennoch kein abschließendes Urteil über die Geschichte, nicht einmal über den Verlust von Utopien angesichts unveränderbarer Züge der menschlichen Natur. Dieser bizarre und faszinierende Roman zeigt das menschliche Antlitz im Leben: es gibt eine ehrliche Ent-Täuschung und echte Hoffnung in der hoffnungslosen Suche nach einer besseren, neuen Welt.

Patrik Ouředník wurde als Sohn einer Französin und eines Tschechen 1957 in Prag geboren, seit 1983 lebt er als Schriftsteller und Übersetzer zwischen der französischen und der tschechischen Sprache in Paris. 2003 erschien der viel beachtete Roman "Europeana".

(Wolfgang Moser; 04/2007)


Patrik Ouředník: "Die Gunst der Stunde, 1855"
(Originaltitel "Příhodné chvíle, 1855")
Aus dem Tschechischen von Michael Stavarič.
Residenz Verlag, 2007. 169 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors:

"Europeana. Eine kurze Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert"

Patrik Ouředníks "Europeana" mag auf den ersten Blick nur ein Buch von vielen sein, wie sie in den vergangenen Jahren zum Thema Europa erschienen sind - dass dem nicht ganz so ist, wird jedoch nach den ersten Seiten deutlich: Diese "Kurze Geschichte Europas im 20. Jahrhundert", erstmals in Tschechien erschienen und ebendort zum "Buch des Jahres 2001" gekürt, strotzt vor Ironie, Weitsicht und Humor des Autors, der als eine der wenigen fixen Größen in der tschechischen Literatur nach Havel & Co gilt. Der fiktive Erzähler bewegt sich in "Europeana" stets außerhalb der europäischen Geschichte. Seine Gegenwart bleibt auf die Sprache selbst beschränkt, die er mit leisem Spott und gesundem Zynismus garniert. (Czernin)
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"Das Jahr vierundzwanzig"
Patrik Ouředník beschreibt in seinem ungewöhnlichen Buch "Das Jahr vierundzwanzig" die Jahre 1965 bis 1989 in der damaligen Tschechoslowakei als persönliche und unmissverständliche Erinnerung an ein Leben im realen Sozialismus. Das "Sich-Erinnern" wird dabei zum maßgeblichen Faktor des "Verstehens" einer ganzen Generation, deren Alltag von Frustration und Ohnmacht geprägt ist.
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