András Nyerges: "Nichtvordemkind!"


Autobiografische Erzählung aus dem zerrissenen Kriegs- und Nachkriegsungarn

Budapest im Sommer 1944: Der vierjährige, kränkliche András lebt mit seiner Familie in einem der ärmlicheren Viertel von Budapest. Seine Eltern und er teilen sich mit der herrschsüchtigen, bigott katholischen und tief verbitterten Mutter seines Vaters, Großmutter Irén, eine Wohnung.

Irén, wegen einer nicht genehmen Liebe aus ihrem wohlhabenden Elternhaus verstoßen, hasst ihre Schwiegertochter und deren Eltern ganz offen und aus tiefstem Herzen, die alles verkörpern, was sie nicht hat: Bildung und Wohlstand. Außerdem entstammen sie, wiewohl konfessionslos, dem linksliberalen Judentum, das Irén schon aufgrund ihrer eigenen Interpretation des Katholizismus verabscheut.

Der kleine Junge, der sehr viel mehr versteht, als seine Eltern annehmen, zumal ihr ständiges "Nichtvordemkind!" bei Großmutter Irén selten auf Resonanz stößt, ist hin und her gerissen. Er muss mit Irén leben, liebt aber natürlich seine Großeltern mütterlicherseits, die ihn verwöhnen und so ernst wie einen Erwachsenen nehmen, die zärtlich zu ihm sind, statt ihn ständig zu strafen - ganz anders als Irén. Daher kann er überhaupt nicht begreifen, warum Irén ständig schlecht über sie redet, so schlecht, dass ihr Sohn seine Schwiegereltern wutentbrannt verteidigt.

Am schlimmsten trifft der diffuse Juden- und Sozialistenhass der Großmutter jedoch András' geliebte Mutter, die ihrem Mann und dem Kind zuliebe stumm alles erleidet.

Schreckliche Tage kommen auf die Familie zu, als der zucker- und herzkranke Großvater verschleppt wird. Der Umzug in den Keller während der Bombardierung Budapests hingegen ist für die Kinder im Haus recht vergnüglich und abenteuerlich.

Als die Familie wieder in die Wohnung zurückkehren kann, ziehen die Eltern von András' Mutter bei ihr ein - der Vater ist inzwischen freigelassen worden -, und die Situation droht völlig zu eskalieren.

In dieser autobiografischen Erzählung stehen die Eindrücke des aufgeweckten und - außer durch die Liebe zu seinen Eltern und Großeltern - unvoreingenommenen Kindes im Vordergrund; den Hintergrund bilden zwei Diktaturen, unter denen Ungarn zu leiden hatte: zum einen das rechtsgerichtete Horthy-Regime einschließlich der deutschen Besatzung und des Pfeilkreuzler-Terrors, zum anderen der sich anschließende, von der Sowjetunion aufgedrückte Kommunismus. Auch der nicht nur für Kinder verstörende Bombenkrieg und der kriegsbedingte Mangel an Lebensmitteln spielen eine wesentliche Rolle.

Aus der Erinnerung heraus zeichnet Nyerges liebevolle, melancholische Porträts der Menschen, die ihm nahestanden: seiner von Großmutter Irén unterdrückten Eltern sowie der drei so unterschiedlichen Großelternteile, Irén und das Ehepaar Fülöp. Gerade aus der Perspektive des Kindes erschließen sich dem Leser die Charaktere ganz unmittelbar: hier Irén, voller Hass und Neid auf die kultivierte Klasse, der sie eigentlich entstammt, und auf ihren Katholizismus fixiert, als könne er der Ersatz für eine glückliche Ehe sein, die ihr nicht vergönnt war, dort der großzügige, offene Professor Fülöp, eine anerkannte Kapazität auf seinem Fachgebiet, und seine warmherzige Frau. Dass der kleine András die Großeltern mütterlicherseits mehr liebt als die harsche Großmutter Irén, versteht sich von selbst. Andererseits beeindruckt sie ihn dadurch, dass sie sich auch Lehrern und anderen Autoritäten gegenüber vehement für ihn und seinen Vater einsetzt - und traumatisiert ihn, als sie eine Gelegenheit zu ergreifen versucht, seine jüdischstämmige Mutter deportieren zu lassen.

Wie ein roter Faden zieht sich die Liebe zwischen den Eltern durch das Buch: Da diese weder durch Großmutter Irén noch durch das mörderische Regime zerstört werden kann, darf sich das Kind sicher fühlen.

András Nyerges erzählt jedoch nicht nur chronologisch seine Erlebnisse aus den Jahren 1944 bis 1949 noch, sondern er flicht häufig spätere Ereignisse ein, die ihm als Erwachsenem ermöglicht haben, die Vorgänge in jener schicksalsschweren Zeit und die schwierigen Beziehungen zwischen den Mitgliedern seiner Familie zu begreifen. Die Entwirrung seiner Familiengeschichte zeigt ein Phänomen, die typisch war für das Ungarn vor dem Zweiten Weltkrieg: Mancher, der wie Großmutter Irén einem diffusen, aber umso intensiveren Antisemitismus frönte, wies, oft ohne es zu wissen, einen von assimilierten Juden geprägten Stammbaum auf, und mancher scheinbar einer rein jüdischen Familie entstammende Freidenker hatte ausschließlich ungarische oder deutsch-ungarische Wurzeln. So zeigt der Autor anhand seiner kurzen Familiengeschichte die Absurdität und Lächerlichkeit des Rassismus auf.

Nyerges' Stil wirkt schlicht und sachlich, dennoch birgt sich sehr viel Gefühl in der spannenden Erzählung. Erfreulicherweise ist die Übersetzung aus dem Ungarischen vorzüglich gelungen.

Ein wunderbares, trotz der tiefen Tragik und Melancholie nicht selten vom Aufblitzen eines unerschütterlichen Humors erhelltes Buch über eine Zeit der Irrungen und Traumata in einem Land voller Gegensätze.

(Regina Károlyi; 09/2007)


András Nyerges: "Nichtvordemkind!"
Deutsch von Andrea Ikker.
Knaus, 2007. 209 Seiten.
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András Nyerges, geboren 1940, lebt als Journalist und freier Schriftsteller in Budapest. Nach seinem Studium arbeitete er zunächst beim Rundfunk, danach von 1979 bis 1988 als Lektor, ab 1989 bei einer Tageszeitung.