Piotr O. Scholz: "Nubien"

Geheimnisvolles Goldland der Ägypter


Vergessene Hochkultur am oberen Nil

Bald nachdem das zwischenzeitlich christliche Nubien islamisiert worden war, verschwand es in der Bedeutungslosigkeit, und zwar derart nachhaltig, dass sogar die Erinnerung an seine frühere Macht und seinen Einfluss auf viele andere antike Reiche dem Vergessen anheim fielen. Nicht einmal das zunehmend rege Interesse an Ägyptens Geschichte vermochte es, die Aufmerksamkeit der meisten Archäologen und der Öffentlichkeit auf jene uralten Länder zu lenken, die heute größtenteils im Sudan liegen, und deren reiche Zeugnisse einer permanenten Bedrohung einerseits durch Verfall und andererseits durch Staudammprojekte und dergleichen unterliegen. Es wird leicht übersehen, dass in der Antike am oberen Nil ganz andere, für siedelnde Menschen günstige Klimabedingungen herrschten als heute, und dass es daher beinahe zwangsläufig zur Entstehung einer hoch entwickelten Kultur kam.
Nubien umfasst unter anderem das auch in der Bibel erwähnte Kusch, das nicht nur Gold und andere begehrte Materialien an die Ägypter lieferte, sondern auch einige Pharaonen stellte. Als sich später das Machtzentrum aufgrund politischer Veränderungen nach Süden, nach Meroë, verlagerte, tat dies den Beziehungen zwischen Ägypten und Nubien keinen Abbruch. Die beiden Kulturen befruchteten einander beinahe permanent; Nubien übernahm wesentliche Teile des ägyptischen Pantheons, wovon viele Heiligtümer, Pyramiden und künstlerische Artefakte Zeugnis ablegen, während sich Ägypten unter anderem hinsichtlich der Stellung der Königsmutter, der Kandake mit ihrer in Nubien sehr großen politischen und militärischen Macht, beeinflussen ließ.
Nubien pflegte aber auch Kontakte zu anderen Kulturen. Die Kunst der Metallverarbeitung etwa wurde von jüdischen Immigranten in Nubien eingeführt, es herrschte ein reger Austausch mit der griechischen Welt, jedoch gab es über den Indischen Ozean hinweg Handel mit Indien und wohl gar China, was entsprechende Funde beweisen. Koalitionen von kuschitischen und meroitischen Fürsten mit semitischen Völkern gegen gemeinsame Feinde und Konkurrenten sind belegt. Bei den Römern erlangte Afrikanisch-Exotisches nicht zuletzt wegen der Auseinandersetzungen mit Nubien einen regelrechten Kultstatus.
Da jedoch die meroitische Sprache bis heute nicht entschlüsselt werden konnte, tut man sich mit der Rekonstruktion der nubischen Geschichte aus örtlichen Quellen schwer, und die Geschichtsschreibung anderer Kulturen bezüglich der Interaktionen mit Nubien ist selbstverständlich mit Vorurteilen und Klitterung behaftet.

Piotr O. Scholz geht dieser Geschichte anhand der vorhandenen eindeutigen Quellen, Funde und Fakten behutsam nach. Er hütet sich vor Spekulationen und Ableitungen, und wo diese unerlässlich sind, kennzeichnet er sie unmissverständlich. Einfach ist es nicht, ein klares Bild von der Kultur der antiken Reichen Kusch und Meroë zu gewinnen und vor allem zu vermitteln, doch dem Autor gelingt es, mittels vieler bewiesener Beispiele die Bedeutung Nubiens, einen Großteil seiner Geschichte und seines kulturellen Hintergrunds darzustellen, wobei vor allem die intensive Vernetzung mit der eng verwandten ägyptischen Hochkultur und die vielseitigen Handelsbeziehungen bis zu den Grenzen der damals bekannten Welt und weit nach Schwarzafrika hinein überraschen: Nubien war eben nicht nur der wichtigste Goldlieferant für Ägypten, das dieses Edelmetall dringend benötigte, es stellte auch nicht nur die bei den Pharaonen sehr beliebten schwarzen Bogenschützen, sondern es gab wechselseitige Einflüsse, über weite Zeitspannen hinweg auf einer Basis der Gleichberechtigung.
Dieses Buch hat einen ausgeprägten Sachbuchcharakter, als populärwissenschaftliche Literatur kann man es nicht bezeichnen: Der Leser sollte sich bereits mit Ägyptologie und/oder antiken Kulturen befasst haben und sich wirklich dafür interessieren, sonst könnte das Buch rasch langweilig werden - was es für Ägypten-Freunde ganz gewiss nicht ist. Detaillierte Vorkenntnisse sind indes nicht erforderlich.
Sehr positiv fallen an diesem Buch die vielen Kartenskizzen auf, die eine geografische Zuordnung der im jeweiligen Kapitel geschilderten Historie, kulturellen Besonderheiten und Funde ermöglichen, sowie reichlich farbige und Schwarzweiß-Abbildungen, die ergänzend zu den Texten aufzeigen, welch vielseitige und auch künstlerisch hoch entwickelte Traditionen im antiken Nubien anzutreffen waren.
Dieses Buch ist also ein Glücksfall für alle, die ihr Bild von der antiken Welt erweitern möchten - denn das geheimnisvolle Goldland der Ägypter kann tatsächlich mit einigen unerwarteten Fakten aufwarten.

(Regina Károlyi; 06/2006)


Piotr O. Scholz: "Nubien"
Theiss-Verlag, 2006. 224 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen