Kerstin Decker: "Paula Modersohn-Becker"

Eine Biografie


Einfachheit im Großen: eine Werklebensgeschichte

"Leben! Leben! Leben!" war der Sinnspruch der Malerin Paula Modersohn-Becker, die in dem vorliegenden Buch grandios von Kerstin Decker porträtiert wird.

"Paula Modersohn-Becker (geboren am 8. Februar 1876 in Dresden; gestorben am 21. November 1907 in Worpswede) war eine der bedeutendsten Vertreterinnen des frühen Expressionismus. In den knapp vierzehn Jahren, in denen sie künstlerisch tätig war, schuf sie 750 Gemälde, etwa 1.000 Zeichnungen und 13 Radierungen, die die bedeutendsten Aspekte der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts in sich vereinen."
So nüchtern kann man es bei "Wikipedia" lesen.

Aber was für ein Mensch verbarg sich hinter dieser großartigen Künstlerin? Wer gab den inneren Antrieb zu ihrem künstlerischen Schaffen? Die Autorin Kerstin Decker, die bereits mit ihrer ambitionierten und viel besprochenen Heinrich-Heine-Biografie ein Achtungszeichen gesetzt hat, begibt sich nun ganz tief in die Seele dieser Frau.

Kerstin Decker beginnt ihre Biografie im Frühjahr 1906:
"Sie ist im Begriff, eine Revolution zu beginnen, und weiß es nicht.
Am Ende dieses Tages wird die Revolution vollbracht sein. Aber man sieht ihr die Aufrührerin nicht an .... Jetzt, am 25. Mai 1906 in der Avenue du Maine in Paris, malt - wohl zum allerersten Mal - eine Frau sich selbst: hüllenlos.
Der erste weibliche Selbstakt entsteht."

Und in gewissem Sinne ist es sogar eine "doppelte Bild-Revolution". Denn sie malt sich nackt und schwanger. Schwanger ist sie zu diesem Zeitpunkt nicht, "höchstens schwanger von sich. Sie ist eine selbst Befruchtende - wie Künstler es sind. Sie ist ihr eigener Rausch."

Von ihrem Mann Paul Modersohn wurde ihr Wirken einmal als "Löffel-und-Kolben-Malen" bezeichnet: Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben. "Paula ist die Malerin des Runden unter den Bedingungen der Modernität." Sie malt geteilte Räume, Rundräume, die sich selbst genug sind. 
Bereits die Griechen erkannten in der Kugel das vollkommene Sein.
Im Jahr 1899 hatte sie das erste Mal in der Bremer Kunsthalle ausgestellt und vernichtende Kritiken erfahren. Ihre Studien - Menschen aus den Worpsweder Armenhäusern - gefielen nicht. Niemand wollte diese "Hängebäuche" sehen, diesen Mut zur Farbe. Aber es sollte trotzdem ihr Jahrhundert werden. Denn genau zu dieser Zeit malt bereits ein Anderer fast so wie sie. Und bald schon wird die Welt diese Art zu malen unter dem Namen Kubismus kennen. Damals kennt ihn kein Mensch. "Er hat gerade hinter sich, was andere bald seine 'rosa Periode' nennen werden. Es ist Pablo Picasso."

Sprechend werden am Anderen
Doch nicht ihn stellt Kerstin Decker Paula Modersohn-Becker an die Seite. Sondern einen Mann, der zu Beginn der literarischen Moderne in Deutschland ebenfalls ganz für sich allein stand: Rainer Maria Rilke. Sie waren eng befreundet. Ihm fühlte sich Paula seelenverwandt.
Rilke begleitet den Leser dieser Biografie nicht als "Neben-Mensch", sondern er tritt als "Haupt-Mensch" auf. Große Teile werden ausführlich ihm gewidmet. "Vor allem, weil eine Künstlerbiografie schließlich die Lebensgeschichte des Werks erzählt, die Werklebensgeschichte."
Paula Modersohn-Becker und Rainer Maria Rilke vollzogen in ihrem Werk die gleichen Bewegungen. Sie wagten sich in Bereiche vor, "in denen es nichts Festes mehr gibt, in denen alles flüssig wird, nach ganz innen. In die wahren Intimräume, in seelisches Magma."

Leben! Leben! Leben! (Worpswede, den 24. Juli 1897)
Einen weiteren großen Schwerpunkt in dieser Biografie - die vor allem intensiv und tiefgreifend die Jahre 1900 bis 1906 beleuchtet - nehmen das Leben in der Künstlerkolonie Worpswede, aber auch ihre künstlerischen Schaffensreisen nach Paris ein.
Kunstvoll verwebt Decker Nietzsches Zarathustra - den Paula gelesen und mit dem sie sich tief verbunden fühlte - mit der Handlung. Dessen Einsamkeiten waren auch die der Künstlerin. Sie war die "Jüngerin Zarathustras". Zarathustra war ihr Alter Ego.
Und dann gab es noch ihre "Schwesterseele": eine tiefe Freundschaft verband Paula mit der Bildhauerin und späteren Frau Rilkes - Clara Westhoff.

Zwei Freiheitsberauschte
Aber immer wieder fließen die elegischen Worte Rilkes ein.
Beiden Künstlern der Avantgarde hat Kerstin Decker in diesem Buch ein Denkmal gesetzt. Diese Biografie scheint aus der Feder Rilkes geschrieben. Die Autorin trifft dessen hohen Ton veritabel, übernimmt dessen "Schwung der Rede", ohne ihn oberflächlich zu kopieren. Anhand eingeflochtener Gedichte Rilkes und inniger Briefwechsel der beiden verschmilzt der Leser kongenial mit dieser außergewöhnlichen Frau. Ein zartes Klingen und Vibrieren durchzieht die Zeilen, erzeugt ein feines Tremolo beim Lesen.
Diese Biografie liest man physisch, fühlt sie in allen Nerven, in den Handgelenken, den Fingerspitzen, den Lippen: lyrische Prosa für die Augen.

Gleichzeitig legt die Autorin sehr gut recherchiertes Werk vor und bringt alles in einen kohärenten Zusammenhang. Gedanken und Gefühlen der Personen, die nicht auf tatsächliche Zeitzeugnisse zurückzuführen sind, nähert sich Decker behutsam an, wägt ab, variiert.
Nie zwingt sie ihre Interpretation auf. Sie erzeugt eine Art literarischen Schwebezustand, so dass der Leser sich eigenständig positionieren kann.

Jede Kunst braucht ihre Entdecker
"Picasso brauchte seine Gertrude Stein. Paula brauchte Hoetger, Rilke, Modersohn und - vor allem Heinrich Vogeler, den Unermüdlichsten ihrer späteren Propagandisten." Die Entdeckerin des Menschen Paula - das ist Kerstin Decker.
Ein großartiges Buch und eine wunderbare Erinnerung anlässlich ihres 100. Todestages am 21. November 2007.

Dies ist eine Biografie der etwas anderen Art, hier sind keine Daten chronologisch aneinandergereiht. Immer wieder springt die Autorin aus den letzten Jahren der Künstlerin in deren Anfangszeit zurück.
Das Buch liest sich tendenziell wie das Tagebuch Paula Modersohn-Beckers, aber lyrisch bearbeitet von Rainer Maria Rilke. So, als würde der Leser wahllos zwischen den Seiten hin- und her blättern, einmal innehalten, dann wieder etwas weiter hinten einsetzen.
Dies wirkt jedoch weder desorganisiert noch störend. Der rote Faden geht dabei niemals verloren. Alles fügt sich schlüssig zusammen: eine Seelenoffenbarung zweier seelenverwandter, großartiger Künstler - eine intellektuelle Meisterleistung, ein gelungenes Orchesterwerk mit Paula Modersohn-Becker als "Hauptton" und vielen wunderbaren "Nebentönen".
Decker schafft einen Klangraum mit vielen Gleichschwingenden, aber jeder ist doch sein ganz eigener Ton darin.

Um eine Buchempfehlung mit modifizierten Worten dieser großartigen Malerin zu geben:
Lesen! Lesen! Lesen!

"Ich bin Ich,
und hoffe, es immer mehr zu werden.
Dies ist wohl das Endziel von allem unsern Ringen" (P.B. 17.02.1906)

(Heike Geilen; 08/2007)


Kerstin Decker: "Paula Modersohn-Becker. Eine Biografie"
Gebundene Ausgabe:
Propyläen Verlag, 2007. 288 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
List, 2009.
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Kerstin Decker, geboren 1962 in Leipzig, ist promovierte Philosophin, Reporterin beim "Tagesspiegel" und Kolumnistin der "taz". Sie lebt in Berlin.

Ein weiteres Buch von Kerstin Decker:

Kerstin Decker: "Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich"

"Gehst Du zum Weibe, vergiss die Peitsche nicht!" - für Nietzsches wohl bekanntesten Ausspruch ist Lou Andreas-Salomé mitverantwortlich. Der von ihr zurückgewiesene Philosoph rettete sich in Verachtung. Wer war diese Frau, die Rilkes frühe Dichtung in den Papierkorb beförderte, mit Nietzsche über Philosophie und mit Freud über Psychoanalyse diskutierte - von ihnen allen als ebenbürtig anerkannt?
Kerstin Decker wirft einen neuen Blick auf diese hochintelligente und charakterstarke Frau, deren Wiederentdeckung sich lohnt. War sie Muse oder Monstrum? Den Männern schien sie beides. "Du warst der Abgrund, der mich verschlang", schrieb Rilke. Den Heiratsantrag des Orientalisten Friedrich Carl Andreas nahm sie unter der Bedingung an, nie das Bett mit ihm teilen zu müssen. Ihre Liebhaber wählte sie selbst. Vor allem aber schrieb sie bis heute beeindruckende Bücher über Ibsen, Nietzsche, Rilke, über Jesus und Gott, über Weiblichkeit, Erotik und "Psychosexualität". Sie war das Paradebeispiel der emanzipierten Frau, stand der Emanzipation jedoch skeptisch gegenüber. Jenseits aller Klischees gelingt es Kerstin Decker zum ersten Mal, das noch immer rätselhaft, ja widersprüchlich erscheinende Wesen dieser Frau überraschend einheitlich zu deuten, im Sinne einer tiefen Menschlichkeit. (Propyläen)
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Weitere Buchtipps:

Renate Berger: "Paula Modersohn-Becker. Paris - Leben wie im Rausch"

Paula Modersohn-Becker (1876-1907) ist eine der bedeutendsten Malerinnen zu Beginn der Moderne. Und doch: Bis heute wurde vor allem der Aufbruch der Männer-Moderne wahrgenommen: Cezanne, Gauguin, van Gogh, Munch, Picasso, Rodin und andere. Doch ohne Paula Modersohn-Becker und einige andere Künstlerinnen sähe die Kunst des frühen zwanzigsten Jahrhunderts anders aus.
Zum 100. Todestag der Künstlerin, am 20. November 2006, erschien von der Kunsthistorikerin Renate Berger die Schilderung der prägendsten und aufregendsten Zeit der Künstlerin: die "Pariser Jahre" zwischen 1900 und 1907. Begleitet wird sie bei ihren zahlreichen Aufenthalten in der französischen Metropole von der Freundin und Malerin Clara Westhoff, der Ehefrau Rainer Maria Rilkes. Die Stadt an der Seine ist ein Abenteuer, eine Flucht aus der Enge der deutschen Provinz in eine Welt, in der die Sprache der Kunst neu erfunden wurde, und die Modersohn-Becker schließlich in Worpswede auf die ihr eigene Weise weiterentwickeln wird. Paris ist aber auch der Ort, an dem Paula Modersohn-Becker ganz zu sich findet und ihr Leben endgültig selbst in die Hand nimmt. So steht sie auch am Anfang
einer sehr aktuellen, unaufgeregten und zugleich entschiedenen Selbstbefreiung der modernen Frau. (Lübbe)
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"Paula Modersohn-Becker in Briefen und Tagebüchern"
Sie sind legendär, die Selbstzeugnisse Paula Modersohn-Beckers, dieser großen Wegbereiterin der Moderne, der ersten Frau, die sich selbst lebensgroß im Akt malte, der vielseitigen Künstlerin, die im Alter von nur 31 Jahren starb. Fünfzehn Jahre umfassen die Briefe und Tagebücher Paula Modersohn-Beckers, fünfzehn Jahre, die den Werdegang des Menschen und der Künstlerin von dem jungen Mädchen aus solidem Hause zur selbstbewussten Malerin dokumentieren. In ihrem Schreiben werden ihre Entwicklung, ihre äußere Unsicherheit, aber auch ihre Geborgenheit in der Ehe mit Otto Modersohn - trotz zwischenzeitlicher Krise - eindrucksvoll sichtbar. Wenige Tage nach der Geburt ihrer sehnlich erwarteten Tochter starb Paula Modersohn-Becker. Sie hinterließ ein beeindruckendes Werk von etwa 750 Gemälden und 1000 Zeichnungen. (S. Fischer)
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Liselotte von Reinken: "Paula Modersohn-Becker"
Als am 8. Februar 1876 in Dresden das Kind geboren wurde, das einmal die Malerin Paula Modersohn-Becker werden sollte, bestand das Deutsche Kaiserreich gerade fünf Jahre. Träger und Nutznießer dieses Deutschen Reiches waren in erster Linie diejenigen, die, einen Teil des Volkes absolut setzend, sich selbst als "die Gesellschaft" bezeichneten; vielschichtig in sich waren ihre verbindenden Elemente Herkunft, Besitz und Bildung. Ihre Angehörigen erkannten sich an gemeinsamen Normen und Formen, zu deren Beherrschung sie von Jugend an erzogen wurden. Dass Paula Becker zu dieser "Gesellschaft" gehörte, ist zur Kenntnis und Beurteilung ihres Wesens und Weges nicht unwichtig. (rororo)
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Rainer Stamm (Hrsg.): "Paula Modersohn-Becker und die Mumienportraits. Eine Hommage zum 100. Todestag der Künstlerin"
Der Begleitkatalog zu einer Ausstellung mit der faszinierenden Gegenüberstellung von Porträts aus zwei Jahrtausenden: ägyptische Mumienbildnisse und Porträts von Paula Modersohn-Becker, die in diesem Katalog präsentiert werden. Angeregt durch antike Mumienbildnisse im Louvre findet Paula Modersohn-Becker in Paris am Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem radikal modernen Porträtstil, der wegweisend wird für eine ganze Epoche. "Die große Einfachheit der Form ist etwas Wunderbares. Jetzt fühle ich tief, wie ich an den Köpfen der Antike lernen kann", schrieb sie im Februar 1903 in ihr Tagebuch. Neben ihren persönlichen Aufzeichnungen drücken sich Interesse und Begeisterung für die antike Bildniskunst vor allem anhand ihrer späten Selbstporträts aus, in denen sowohl in der Malweise als auch in Ausschnitt und Haltung der Porträtierten der ägyptisch-antike Einfluss mit vollkommener Überzeugungskraft ins Auge fällt. Während derartige Parallelen zwischen Mumienporträts und dem Werk von Künstlern wie Ferdinand Hodler oder André Derain nur vermutet werden, sind sie im Werk von Paula Modersohn-Becker klar dokumentiert und nachweisbar. In ihnen offenbart sich die Suche nach einem bildlichen Ausdruck für das Menschsein als eine Wesensverwandtschaft des Künstlerischen über Jahrtausende hinweg.
Die Ausstellung zum 100. Todestag im Paula Modersohn-Becker Museum, dem weltweit ersten Künstlerinnenmuseum, vereint bedeutende Beispiele der ebenso eleganten wie eindringlichen Mumienporträtkunst mit malerischen Höhepunkten aus den letzten Schaffensjahren Paula Modersohn-Beckers. Hochkarätige Leihgaben u.a. aus dem Pariser Louvre, dem Antikenmuseum in Basel, dem Ägyptischen Museum in Berlin, dem British Museum und der National Gallery in London bilden eine spektakuläre Verbindung von Kunst der Antike und der Klassischen Moderne. (Hirmer)
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Gunna Wendt: "Clara und Paula. Das Leben von Clara Rilke-Westhoff und Paula Modersohn-Becker"
1898 lernten sich Paula Becker und Clara Westhoff in Worpswede kennen. Schon bald verband die beiden nicht nur künstlerische Arbeit - Paula war Malerin und Clara Bildhauerin -, sondern auch eine tiefe Freundschaft. Voller Sachkenntnis und lebendig wie ein Roman schildert Gunna Wendt den Weg der beiden jungen Künstlerinnen in einer Zeit, in der Künstlertum für junge Frauen alles Andere als selbstverständlich war. (Piper)
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