"Milarepas gesammelte Vajra-Lieder"


Yetsün Milarepa (1052-1135) war einer der großen Yogis Tibets, wahrscheinlich ihr berühmtester. In der westtibetischen Provinz Gungthang an der Grenze zu Nepal geboren erlebte er eine ihn psychisch stark strapazierende Kindheit und wandte sich um Hilfe vor seinen Peinigern schwarzmagischen Praktiken zu. Darin gelangte er zu einiger Meisterschaft und verbreitete eine Zeitlang dementsprechend viel Unheil in seiner näheren Umgebung. Doch angesichts des schlechten Karma, das er bereits angehäuft hatte, wurde er von tiefer Reue überwältigt und nahm Zuflucht zum Dharma. Zunächst fand er den Nyingmapa-Lehrer Röngton, durch diesen schließlich einen für ihn geeigneten, den mit ihm karmisch verbundenen Lehrer Marpa, den Übersetzer, von dem er in die buddhistische Lehre und in die geheimen Praktiken der Kagyüpa-Schule eingeweiht wurde. Nach dem Tod seines Meisters führte Milarepa das Wanderleben eines Yogi und Bettelmönches, wobei es, da er mit Vorliebe in unwirtlichen Höhen jenseits der Menschen weilte, meist nicht viel zu betteln gab. Seine starke Ausstrahlung aber und der daraus resultierende Ruf, den Milarepa schon zu Lebzeiten genoss, sorgten trotzdem dafür, dass er zahlreiche Schüler fand, unter ihnen Gampopa, seinen Nachfolger in der Kagyüpa Linie.

Die vielen Lieder, die von Milarepa in Umlauf waren, wurden im 15. Jahrhundert von dem Yogi Tsang Nyöen Heruka, genannt auch "der verrückte Yogi", unter dem Titel "Die gesammelten Vajra-Lieder, eine Erweiterung der Lebensgeschichte des Jetsün Milarepa" zu einem der klassischen tibetischen Weisheitsbücher zusammengefasst; unter Mitwirkung von Waltraud Sander von Henrik Havlat aus dem Tibetischen ins Deutsche übersetzt ergeben sich die beiden Bände des vorliegenden Buches. Daneben zirkulieren allerdings noch viele andere Milarepageschichten, besondere Erwähnung verdient hierbei Milarepas Autobiografie.
Des verrückten Yogi Erzählungen beginnen zu einem Zeitpunkt, als Milarepas Lehrer Marpa schon tot ist und Milarepa selbst ein erleuchteter Meister, auf den allerdings in dieser Fase noch etliche negative Kräfte warten. So ist das Hauptmotiv des ersten Geschichtentyps Milarepas Kampf gegen alle möglichen Dämoninnen, Dämonen und Berggeister, die aus Hass, Neid, Tücke und anderen der Unwissenheit entspringenden Gefühlen den einsamen Yogi attackieren. Milarepa, der das Wesen der Wirklichkeit erkannt hat und sich von der äußeren Erscheinungswelt nicht täuschen lässt, begegnet diesen Angriffen souverän, wohl macht er dabei hin und wieder auch von seinem magischen Kraftblick Gebrauch, nie aber versäumt er, dem Geist das Verblendete seines Tuns, die zugrundeliegenden geistigen Irrtümer, nebst den unausweichlichen Konsequenzen für sein Karma aufzuzeigen, und er macht dies so eindringlich, dass es häufig mit der Bekehrung des Dämons endet. Die zweite Art Geschichten handelt davon, auf welchen einfachen oder verschlungenen Pfaden Milarepa seine Schüler findet. In beiden Fällen ist Milarepa nicht aus persönlicher Anziehung und Abneigung unterwegs, sondern er achtet auf Zeichen; meist ist es der ihm im Traum erscheinende verstorbene Marpa, der ihn heißt, einen bestimmten Ort aufzusuchen um dort eine Prüfung zu bestehen oder einen ihm vorbestimmten Schüler zu finden. Historisch interessant ist insbesondere auch eine Geschichte, die anhand eines magischen Wettstreits die Verdrängung des Bön-Kults, Tibets Ursprungsreligion schamanistischer Prägung, durch den Buddhismus beschreibt.

Gleichsam eingewoben in die Erzählungen und bei weitem mehr Raum einnehmend sind die Lieder tatsächlich wahre Diamanten, was die starke Verdichtung des Yogigeists des Werks und die vollendete sprachliche Form betrifft. Wenn Milarepa um Belehrung in einer Frage der Religion und richtigen Lebensführung gebeten wird oder sich mit einem Dämon auf einen heftigen Kräftevergleich einlässt, spricht er, als Zeichen seines höheren Bewusstseinszustandes, immer in Versen, ebenso halten es die Geister und in ihren intensiveren Momenten die Schüler. Die poetische Sprache ist reich an Bildern, Vergleichen und Analogien (für jede äußere Erscheinung gibt es eine Parallele im menschlichen Bewusstsein, für jede menschliche Tugend und Schlechtigkeit eine Entsprechung in der Natur), zeichnet sich andererseits durch einen Willen zur Kürze und Sachlichkeit aus. Dies rührt nicht zuletzt von der starken Bindung der Lieder an Gedankenwelt und Systematik des tantrischen Buddhismus. Das eine oder andere Sanskritwort mag dabei unbekannt sein, die eine oder andere Einteilung dem Europäer willkürlich erscheinen, doch vermögen die Bilder als künstlerischer Ausdruck für sich alleine zu sprechen, und hinter zunächst fremdartigen Klassifizierungen wird langsam die Sicht auf die grundsätzliche tibetische Herangehensweise an die Wirklichkeit frei. An der Artenvielfalt wiederum, wie Milarepa die Bewusstseinszustände seiner Dialogpartner spiegelt und spontan darauf reagiert, und an der bedingungslosen Direktheit seiner Worte lässt sich noch viel von der machtvollen Originalität des singenden Yogi erahnen.

(fritz; 03/02)


"Milarepas gesammelte Vajra-Lieder" (Bd.1+2)
Theseus Verlag 1997
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