Ernst Kistler: "Die Methusalem-Lüge"

Wie mit demografischen Mythen Politik gemacht wird


Sterben die Deutschen aus? Bedrohen alternde Belegschaften Deutschlands Produktivität und Innovationskraft? In einer auf Wachstum ausgerichteten Marktwirtschaft, die zudem auf die Kraft der Jugend setzt, lädt der demografische Wandel zu Mythen ein, die teils aus Unkenntnis entstehen, teils auf irrationale Ängste zurückzuführen sind und teils als Propaganda zwecks Verfolgung handfester politischer Ziele in die Welt gesetzt werden. Nicht alles, was unter dem Deckmantel der demografischen Entwicklung als zukunftsweisend beschlossen oder veröffentlicht wird, hält einer kritischen Überprüfung stand.

Ernst Kistler, hauptberuflich u.a. mit dem demografischen Wandel und seinen Folgen beschäftigt, trennt in seinem Buch "Die Methusalem- Lüge" hinsichtlich der in den Medien verbreiteten Positionen die Spreu vom Weizen. Der Titel dürfte eine Anspielung auf Frank Schirrmachers eher polemisch verfassten Verkaufsschlager "Das Methusalem-Komplott" sein. Im Gegensatz zu Schirrmacher legt Kistler Wert auf fundierte Analysen, die er durch zahlreiche Grafiken untermauert. Nicht alle Grafiken sind leicht lesbar, in der Summe unterstreichen sie jedoch glaubhaft Kistlers Intention, mit in der Politik und in der Öffentlichkeit verbreiteten Vorurteilen aufzuräumen.

Der Geburtenrückgang ist ein Phänomen, das nicht nur in Deutschland, sondern europaweit und darüber hinaus in einigen Ländern außerhalb von Europa beobachtet werden kann. Kistler thematisiert die Frage, ob Bevölkerungswachstum, insbesondere im Hinblick auf ökologische Folgen, stets positiv zu bewerten ist. Wenngleich in unserer globalen Wirtschaftswelt Wachstum als Wert an sich wahrgenommen wird, dürfen die Zusammenhänge zwischen Umweltbelastung und Bevölkerungsdichte nicht ausgeblendet werden. Begrenzte Ressourcen bedingen ein begrenztes Wachstum.

Im Hauptteil des Buches behandelt Kistler sechs in den Medien vertretene Mythen zum demografischen Wandel, in denen zum Ausdruck kommt, dass die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungsentwicklung und Arbeitsmarktsituation falsch oder perspektivisch verzerrt dargestellt werden. So ist z.B. nicht belegbar, dass der demografische Wandel zu einem spürbaren Arbeitskräftemangel führen wird. Auf Basis des vorliegenden Zahlenmaterials ist es eher wahrscheinlich, dass auch in den nächsten Jahrzehnten ein Überangebot an Arbeitskräften vorhanden sein wird. Ebenso hält der Autor es aufgrund vorliegender Forschungen für ein Märchen, dass alternde Belegschaften die Produktivität und Innovationskraft der Industrie bedrohen.

Kistlers sozialwissenschaftliche Kompetenz wird besonders beim Thema Altersdiskriminierung deutlich. Der Jugendwahn in unserer Arbeitswelt hält an, und ältere Arbeitnehmer haben auch bei hoher Qualifikation kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Wie unter diesen Voraussetzungen die prognostizierte Kaufkraft der älteren Bevölkerung entstehen soll, bleibt das Geheimnis derer, die diese These unreflektiert in den Medien vertreten. Auch mit der "Rente mit 67" geht Kistler hart ins Gericht, denn zunächst müssen die Arbeitsmarktchancen älterer Arbeitssuchender gegen die breite Front der Unternehmerverbände verbessert werden, sonst fördert die Änderung der Altersgrenze lediglich die Altersarmut.

Im letzten Kapitel unterbreitet der Autor Vorschläge, wie die Politik mit dem Querschnittsthema Demografie umgehen sollte. Er fordert langfristige integrierte Konzepte, die mehr umfassen müssen als Elterngeld und das Erschweren eines vorzeitigen Renteneintritts. Interessant ist sein Vorschlag, analog zum Umweltrecht, ein demografisches Verursacherprinzip zu etablieren, durch welches Unternehmen stärker in die Verantwortung genommen werden würden. Dieser Vorschlag wird Diskussionen auslösen.

Der Titel "Die Methusalem-Lüge" klingt reißerisch und provokant. Beim Blick auf den Buchumschlag entsteht der Eindruck, als ob der demografische Wandel nicht stattfinden würde. Aber dieser erste Eindruck wird beim Lesen revidiert. Autor Kistler klärt fundiert über ein vielschichtiges Thema auf. Dreißig Seiten Anmerkungen und Literaturhinweise unterstreichen seine gründlichen Recherchen. Dass er tendenziell die Interessen der (alternden) Arbeitnehmerschaft im Fokus hat und diesbezüglich die Position der Unternehmerverbände kritisiert, macht ihn sympathisch.

Professor Ernst Kistler ist Direktor am Internationalen Institut für Empirische Sozialökonomie INIFIS gGmbH. Zu seinen Hauptarbeitsgebieten gehören der demographische Wandel, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie Sozialberichterstattung. Der Autor ist gefragter Redner zum Thema und ist auf Landes- und Bundesebene als Politikberater tätig.

(Klemens Taplan; 11/2006)


Ernst Kistler: "Die Methusalem-Lüge. Wie mit demografischen Mythen Politik gemacht wird"
Hanser Wirtschaft, 2006. 270 Seiten.
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