Herbert Marcuse: "Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud"

Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut.
(Sigmund Freud)

Freiheit ist nur denkbar als die Realisierung dessen, was man heute noch Utopie nennt.
(Herbert Marcuse)


Der 1898 als Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten aus Pommern bei Berlin geborene Herbert Marcuse war einer der gnadenlosesten und profundesten Kritiker kapitalistischer Gesellschaftsordnung und sein Tod im Jahre 1979 hinterließ eine Leere, die bis heute nicht wieder geschlossen werden konnte. Marcuses Schriften erschütterten das westliche Selbstverständnis als beste je da gewesene Gesellschaftsform und forderten in Anbetracht realer Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse zum revolutionären Handeln auf, wobei es sein Credo war, dass sämtliche Revolutionen nur deswegen gescheitert sind, weil sie allesamt zu wenig radikal waren.

Herbert Marcuse gehörte 1930 neben Erich Fromm und Max Horkheimer zu den Mitbegründern des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main, besser bekannt als "Frankfurter Schule" deren "Kritische Theorie" den Kopf- und Bauchrevolutionären von 1968 ihr ideologisches Rüstzeug lieferte, wobei man als führenden Theoretiker der Studentenrevolte wohl Herbert Marcuse erachten muss, dessen philosophische Werke sich in den frühen 1970´er-Jahren in einer Auflage von mehreren hunderttausend Exemplaren verkauften.

1934 musste Marcuse als Linker und Jude vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten von Amerika emigrieren, wo man ihn trotz seiner linkssozialistischen Gesinnung freundlich aufnahm und ihm 1940 die Staatsbürgerschaft gewährte. Der studierte Philosoph aus Deutschland absolvierte seinen Kriegsdienst bei der US-Spionageabwehr, deren Europaabteilung schließlich seiner Leitung unterstellt wurde. 1951 nahm Marcuse wieder seine wissenschaftliche Tätigkeit auf und war von 1954 bis 1965 Professor für politische Wissenschaften an der Brandeis-University in Waltham/Massachussetts. 1955 veröffentlichte er "Eros and Civilisation" welches 1965, mit Einsetzen der Studentenrevolte in Deutschland, auf deutsch unter dem Titel "Triebstruktur und Gesellschaft" erschien.

"Triebstruktur und Gesellschaft" ist ein Abgesang auf dreitausend Jahre abendländische Kultur und fordert eine vollkommen andere Gesellschaft, deren Wesen als subversive Vision erahnbar ist. Grundannahme ist, dass die menschliche Triebstruktur und die gegenwärtige menschliche Gesellschaft nicht miteinander übereinstimmen und folglich - um ein klagloses Funktionieren gesellschaftlicher Ansprüche zu gewährleisten - die Triebbedürfnisse des Menschen unterdrückt beziehungsweise verdrängt werden müssen. Marcuses Argumentationsstrang baut auf der Triebtheorie Sigmund Freuds auf, wobei er dessen tendenziell konservativen Schlussfolgerungen nicht nur die Gefolgschaft verweigert, sondern sie vielmehr sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Denn so sehr man den "Lustlümmel aus der Berggasse 19" im 9. Wiener Gemeindebezirk, (so wurde Freud von seinen Gegnern denunziert) zu Lebzeiten auch ob seiner Triebtheorie angegriffen hat, so war Freud in der Tat doch eher skeptisch, was die Freiheitsfähigkeit der seiner Meinung nach zerstörerischen Lustpraxis menschlicher Animalität betrifft. Die Bestie Mensch wird zum menschlichen Wesen nur durch die grundlegende Umformung der Triebstruktur, durch ihre Disziplinierung und Verkümmerung; ein Triebschicksal, das nicht nur die ganze Gattung Mensch betrifft, sondern auch jedem Einzelnen im Laufe seiner Sozialisierung als persönliches Trauma widerfährt.
Kultur ist Triebverzicht, und so ist nach Freud die Geschichte des Menschen auch die Geschichte der (notwendigen) Unterdrückung seiner Triebziele. Nicht nur die Triebziele werden gestutzt und, soweit noch vorhanden, sublimiert, sondern auch die damit verbundenen Triebwerte werden im herrschenden Wertesystem neu definiert, von Lust zu Lustenthaltung, von Freude (Spiel) zu Mühe (Arbeit), von Fehlen der Unterdrückung zu Sicherheit. Freud hat diesen Wandel als Umformung des (archaischen) Lustprinzips in das Realitätsprinzip bezeichnet und somit ein Gegensatzpaar geschaffen, dessen dialektischer Widerspruch dem Denken Marcuses fundamental zugrunde liegt.

Marcuse schreibt: "Mit der Einführung des Realitätsprinzips wird der Mensch, der unter der Herrschaft des Lustprinzips kaum mehr als ein Bündel tierischer Triebe gewesen war, zum organisierten Ich. Er strebt nach dem, 'was nützlich ist' und was er ohne Schaden für sich selbst und seine Außenwelt erlangen kann." Der dem Realitätsprinzip unterworfene Mensch ermöglichte den Zivilisationsprozess wie wir ihn aus der Geschichte kennen (als eine grausige Abfolge organisierten Tötens und Ausbeutens) und erlosch als lebendiges Gattungswesen. Was vom Lustprinzip blieb, war die Fantasie ("Fantasie an die Macht!" - Wandparole der 1968´erbewegung), seine gelegentliche Wiederkehr im Traum und eine poetische Ahnung davon, verkörpert in Urbildern wie sie Orpheus und Narziss repräsentieren. In der gesellschaftlichen Alltagswirklichkeit herrscht jedoch allein das Realitätsprinzip vor, das umso wirkmächtiger ist, je mehr das Lustprinzip durch bloße innerweltliche Askese abgelöst wird und statt augenblicklicher Triebbefriedigung nur noch alle Lebensbereiche einer totalen Disziplinierung unterworfen werden. Insbesondere religiöse Lehren waren geeignet, diesen Prozess zunehmender Rationalisierung zu fördern, wie Max Weber in seinen "Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie" eindrucksvoll darlegte. Mittlerweile ist in den technisch entwickelten Gebieten dieser Erde die Unterwerfung der Natur fast vollständig gelungen, stellt Marcuse fest, und spricht von einer Mechanisierung und Standardisierung des Lebens, von seelischer Verarmung und wachsender Destruktivität des Fortschrittsregiments westlicher Kultur.

Wie schon gesagt, Marcuse baut auf der Theorie Freuds auf und verkehrt dessen wesenhaft konservativen Kulturpessimismus in einen revolutionären Kulturoptimismus. Im Kapitel "Die Verwandlung der Sexualität in den Eros" skizziert er die Vision einer Kultur ohne Unterdrückung und Verdrängung, wie sie bereits die alten Griechen in den Mythen von Orpheus und Narziss angedacht haben und wie sie bereits in Friedrich Schillers Idee eines "ästhetischen Staates" vorformuliert ist. Freilich gibt Marcuse in diesem Zusammenhang zu, dass es sich bei der Entfesselung der unterdrückten Libidoenergien um eine Regression in vorkulturelle Organisationsstadien handle, da es ja Ziel dieser Regression sein müsse "die zentralen Befestigungen des Leistungsprinzips zu durchbrechen: sie würde die Ableitung der Sexualität in die Kanäle der monogamen Fortpflanzung zerstören und das Tabu auf die Perversionen aufheben." (Zumal der Mensch in seiner Rohfassung nach Freud eine polymorph perverse Kreatur sei; womit dieser auch sagte, dass sich das Böse weder austreiben noch bannen lasse; das natürliche Böse - das rohe Luststreben - lasse sich nur unterdrücken.)

Die im Dienste des Leistungsprinzips in einem langen und grausamen Domestikationsprozess verfügte chronische Desexualisierung des menschlichen Körpers (die kulturelle Verfeinerung der Sexualität zur monogamen Liebe), müsse in einer sexuellen Revolution, welche den Triebansprüchen höchste Priorität einräumt, überwunden werden. "Die kulturelle Moral ist die Moral der verdrängten Triebe", konstatierte Freud und "eine Befreiung der Letzteren bedeutet eine Herabsetzung der Ersteren." Eine repressive Sexualordnung ist als Kulturnotwendigkeit unumgänglich. Nichtsdestotrotz fordert Marcuse eine ganz andere, nämlich das Wagnis einer revolutionär umgestürzten Sexualordnung, welche eine menschengerechte Kultur gebiert und in welcher alle Selbstentfremdung aufgehoben ist.

Kurzum, Marcuse zielte auf eine Umkehrung des Zivilisationsprozesses ab, propagierte einen Umsturz der Kultur, forderte die Schaffung einer lustorientierten Gesellschaft, in welcher Spiel, Freude und schöpferisches Miteinander Sinn und Zweck des menschlichen Daseins sind. Dass dies auf der Höhe zivilisatorischer Entwicklung gelinge würde, davon war Marcuse überzeugt.

Es wird nicht überraschen, dass dieser, als philosophischer Essay verfasste, sehr gewagte und gleichermaßen von sich selbst überzeugte, Gesellschaftsentwurf zu scharfen Entgegnungen führen musste. Einer der schärfsten Kritiker war sein ehemaliger Kollege am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main, Erich Fromm. Fromm machte Marcuse zum Vorwurf, er wolle den Menschen zum lustorientierten unreifen Kind zurückentwickeln, was verantwortungslos sei, da nur die zur vollen geistigen Reife entwickelte Persönlichkeit eine gerechtere und humanere Gesellschaft entfalten könne, eine Persönlichkeit, die sich nicht einfach nur in hedonistischer Manier an ihrem Luststreben orientiere, sondern die bereit sei globale Verantwortung zu übernehmen. Die narzisstische Ausrichtung, welche Marcuse betreibe, wolle gedankenlos alle möglichen Gegenstände vereinnahmen, enthalte eben keine
Verantwortungsethik und befinde sich solcherart in der Existenzweise des Habens (siehe Erich Fromm: "Haben oder Sein"). Zudem sei eine gesunde Einstellung zum Leistungsprinzip durchaus wünschenswert, hingegen dieses einfach nur durchbrechen zu wollen, manifestiere eine unreife Einstellung zur Welt der Notwendigkeiten, welche in infantiler Manier einfach nur ignoriert werden soll. Insgesamt wäre wohl mehr Mäßigung und weniger Extremismus angebracht. Ob diese Mäßigung nun wirklich angebracht sei, bleibt jedem Einzelnen zur Beurteilung überlassen. Jedenfalls scheinen radikale Gedanken nicht immer und überall unangebracht, würde ich meinen. Und wer radikales Denken von vorneherein ausschließt, benimmt sich systematisch der vollen Breite möglicher Erkenntnis.

Eine besonders scharfe Kritik handelte sich Marcuse von
Sir Karl Popper (1902-1994) ein. Popper, der ein entschiedener Fürsprecher westlicher Zivilisationsart war, hielt in seiner Institutionenlehre insbesondere die institutionelle Struktur der abendländischen Kultur für eine bewahrenswürdige Errungenschaft, die den wiederholten Einbruch von Barbarei verhindern helfe. Wenn nun Marcuse gerade auf die revolutionäre Auflösung gesellschaftlicher Institutionen hinwirkt, so bedeutete dies für Popper schlicht und einfach nur einen mutwilligen Rückfall in die Barbarei primitiver Stammeskonzeptionen. Und natürlich zählte Popper den Revolutionstheoretiker Herbert Marcuse, dessen Denken ein Aufstand gegen die Vernunft darstelle und der in grob fahrlässiger Weise ekelhaften Wortkram verbreite, der als bloßes hochtrabendes Geschwätz nicht greifbar und folglich auch nicht vermittels einer kritischen Überprüfung des Wortgehaltes widerlegbar sei, zu den orakelnden Philosophen. Nun, es war wohl die Eigenart des "Kritischen Rationalismus" eines Karl Popper, dass er seinen Wirklichkeitsbegriff auf Tatsächlichkeiten einschränkte, hingegen die Denker der "Kritischen Theorie" auch das einfach nur Mögliche (Potenzialitäten) als wirklich erachteten. Zwischen diesen beiden Positionen gab und gibt es keine Verständigung, das müssen wir so hinnehmen. Zuletzt handelt es sich um eine weltanschauliche Entscheidung, ob man Herbert Marcuses Denken als ernsthaft akzeptiert, oder, wie Karl Popper, als Philophasterei verschmäht. Schon legendär ist das Wortduell, das sich die beiden Kontrahenten am 5. Januar 1971 vor laufenden Kameras lieferten, welches sodann der Bayerische Rundfunk in einer Fernsehdokumentation vor einem Millionenpublikum ausstrahlte, und das kurz darauf in Buchform unter dem Titel "Revolution oder Reform" veröffentlicht wurde. Alles in allem lässt sich zusammenfassen, dass Karl Popper die von den Neomarxisten á la Marcuse behauptete Ohnmacht und Determination des Individuums entschieden in Abrede stellte und statt dessen die aufklärerische Überzeugung vertrat, dass der Mensch mittels seiner Vernunft sehr wohl im Stande sei, die gegenwärtige Gesellschaft zum Besseren weiterzuentwickeln. Wie auch immer, durfte sich Marcuse zumindest des Privilegs glücklich schätzen, von Popper wenigstens beachtet zu werden; eine Ehre, welche Karl Popper den meisten Protagonisten der Anti-Popper-Front im sogenannten Positivismusstreit versagte.

Marcuse wurde nicht nur zu Lebzeiten mit viel Widerspruch bedacht. Zuletzt bemängelte im Jahre 2001 Mariam Lau im Rahmen des alljährlichen Philosophicum Lech - zum Thema
: "Der listige Gott. Über die Zukunft des Eros." - Marcuses Neigung zum Grotesken und unterstellte ihm ein reaktionäres Ressentiment gegen die städtischen Umgangsformen unserer Metropolenkultur.

Die oben ausgeführten Kritiken sind gewiss im Einzelnen so ernst zu nehmen, wie auch der Kritisierte in seinem Denken ernst zu nehmen ist. Letztlich bleibt es eine Sache der weltanschaulichen Perspektive, die entscheidet, ob der Kritik oder dem Kritisierten Gefolgschaft zu leisten ist. Utopische Entwürfe lassen sich, solange sie nicht endgültig an der Wirklichkeit gescheitert sind (und das ist fast nie der Fall), als quasi Luftschlösser weder auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen, noch logisch widerlegen. Sie sind zur Zukunft hin offen und können morgen wirklich werden oder an der Wirklichkeit scheitern. Man kann es heute nicht wissen.

Wie auch immer man Marcuses radikale Ansätze nun beurteilen wird, so bleibt doch außer Diskussion gestellt, dass es sich bei seinen Werken um ein Schrifttum handelt, welches zweifellos Geistesgeschichte geschrieben hat und dessen Prägungsmacht allein schon im Hinblick auf die 1968´er-Generation eine gewisse - nicht zu unterschätzende - historische Wirkmacht erzielt hat. Vermutlich eignen sich seine Thesen nicht zur revolutionären Handlungsanleitung für revolutionäre Massen, und dem ehemaligen Theoretiker der Revolution wird heute mitunter sogar reaktionäres Gehaben unterstellt, doch für das profunde Verständnis gesellschaftlicher Sexualordnung wie überhaupt menschlicher Weltgeworfenheit ist dieser Essay zur Philosophie der Psychoanalyse - wie überhaupt das Gesamtwerk Marcuses - noch allemal zu empfehlen. Des weiteren hat Marcuse mit diesem Buch eine gleichermaßen gediegene wie kritische Einführung in die beachtliche Sozialphilosophie Sigmund Freuds geschrieben, der eben nicht nur Arzt und Psychoanalytiker war. Keinesfalls sollte man "Triebstruktur und Gesellschaft" als einen Beitrag zur Weltanschauung eines genitalfixierten "Pan-Sexualismus" (wie etwa bei Wilhelm Reich) verkennen. Vielmehr hingegen als mutige Vision über die Möglichkeit eines schöpferischen Daseins in einer Kultur, deren Schaffung und Bewahrung dem Menschen schöpferische Freude bereitet. Dieses ausnehmend interessante Buch sollte man jedenfalls gelesen haben und nicht in seiner Bibliothek missen. Genauso wenig wie die anderen Klassiker dieses Ausnahmedenkers.

(Harald Schulz; 10. Juli 2002)


Herbert Marcuse:
"Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud"
Suhrkamp, 1997. 232 Seiten.
ISBN 3-5185-7554-6.