Fritz R. Glunk: "Marcel Proust"


Auf der Suche nach Marcel Proust

Wieder einmal hat sich ein Biograf an die Beschreibung eines Lebens gemacht, das äußerlich unspektakulär verlief, zugleich aber eines der größten Werke der Weltliteratur hervorbrachte.

1871 als Sohn wohlhabender Großbürger geboren, litt Marcel Proust schon in seiner Kindheit an quälenden Asthmaanfällen. Trotz einiger lustloser Universitätsstudien widersetzte er sich den Wünschen seines Vaters, einer international angesehenen Autorität auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung, und schlug keine Karriere im Staatsdienst ein, sondern führte, soweit es seine angegriffene Gesundheit zuließ, ein dandyhaftes Leben in den Pariser Salons und den Seebädern der Normandie. Seine Versuche einer Schriftstellerkarriere blieben lange ohne Erfolg, weder seine journalistischen Arbeiten noch seine Übersetzungen fanden das erhoffte Echo.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts erbte Proust nach dem Tod seiner Eltern ein beachtliches Vermögen, das ihm trotz seines leichtfertigen Umgangs mit Geld ein finanziell sorgenfreies Leben ermöglichte. Doch um 1910 zwang ihn sein Gesundheitszustand dazu, sich fast völlig in seine Wohnung zurückzuziehen. Gegen sein ständiges Frieren in mehrere Schichten Kleidung gehüllt, im schwach beleuchteten, gegen Lärm korkisolierten Schlafzimmer im Bett sitzend, arbeitete er praktisch bis zu seinem Tod im Jahre 1922 an seinem vielbändigen Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", mit dem er sich in den Literaturolymp schrieb. Die Einzigartigkeit, Vielschichtigkeit und Komplexität dieses monumentalen Werks ließ selbst Virginia Woolf vor Ehrfurcht erstarren: "Ich zögere, mich hineinzustürzen, aus Furcht, hinabgesogen zu werden, in der bangen Erwartung, immer und immer tiefer darin zu versinken und womöglich nie mehr an die Oberfläche zu gelangen.

In seinem in der Reihe "dtv Portrait" erschienenen Band versucht sich Fritz R. Glunk Proust und seinem Schaffen anzunähern, ohne Parallelen zwischen Leben und Werk zu suchen oder die (Homo-)Sexualität des Schriftstellers voyeuristisch ausschlachten zu wollen. Wohl aufgrund dieses Anspruchs lässt seine Biografie manchmal den Wunsch nach etwas weniger Andeutungen aufkommen, doch bietet der deutsche Sprach- und Literaturwissenschaftler vor allem Proust-Neulingen einen übersichtlichen ersten, von zahlreichen Abbildungen illustrierten und von auch Quellen im "World Wide Web" umfassenden Literaturhinweisen, einer Zeittafel und Zitaten begleiteten Einblick in das zuletzt beinahe klösterliche Leben des Romanciers.

Nach der Lektüre von Glunks kurzem Porträt wird jedoch leider für jene, die noch nie in die "Suche" zumindest hineingeschmökert haben, die von ihr ausgehende Faszination nicht greifbar werden, vielleicht auch, da zwar ausführlich auf die Entstehungsgeschichte des Romans eingegangen, kaum aber der Versuch unternommen wird, seinen zugegebenermaßen komplexen Inhalt zu skizzieren. Einige zusätzliche ausgewählte Bespiele für den unvergleichlichen Stil Prousts und seine facettenreiche Gedanken- und Gefühlswelt würden sicherlich so manchem Leser Lust machen, sich auf die zeitweilig ein wenig anstrengende, Geist und Seele aber überaus bereichernde "Suche nach der verlorenen Zeit" zu machen.

(hank; 12/2002)


Fritz R. Glunk: "Marcel Proust"
dtv, 2002. 189 Seiten.
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Jean-Yves Tadié: "Marcel Proust. Biografie"

Die "Biografie des Werkes" ist die einzig sinnvolle Aufgabe für einen Proust-Biografen. Mit diesem Leitfaden folgt Jean-Yves Tadié - Kenner und wohl wichtigster Herausgeber des Proustschen Gesamtwerkes - der Intention Prousts, der 1921 in seinem Aufsatz über Baudelaire betont, bei einer Biografie gehe es um das Warum und das Wie, nicht um das Was.
Bei Tadié sind folglich die äußeren Lebensumstände und -zeugnisse, einschließlich der Korrespondenz, nur Belege und Mittel, um das "innere Leben", das, was Proust wusste, dachte, empfand, interpretierend zu erschließen.
Die Darstellung fließt dabei nicht immer exakt linear. Sie reflektiert auch die Bruchstellen und registriert bewertend die Details von Belang und die oft retardierenden Bedeutungen der Ereignisse. Es ergibt sich ein Mosaik von Personen, Orten und Motiven. Jeder einzelne der Teile gleicht einer Miniatur, bildet ein eigenständiges Porträt, um sich schließlich in ein Gesamtbild zu fügen. Dieses mikrologische Verfahren bietet alles, was man über Proust wissen kann, alles Wissenswerte, was zum Verständnis der Gestalt des Schriftstellers und seines Werkes beiträgt. (Suhrkamp)
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Karlheinz Stierle: "Zeit und Werk. Prousts A la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia"
Was ist die Zeit? Die Frage nach dem Wesen der Zeit, die sich an der Schwelle der Neuzeit und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf jeweils neue und dringliche Weise stellte, hat in zwei exemplarischen Werken Gestalt gewonnen: in Dantes "Göttlicher Komödie" und in Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit".
Karlheinz Stierle hat diese Bücher neu gelesen und überraschende Korrespondenzen entdeckt, die er brillant anhand zahlreicher Textbeispiele belegt - nicht nur für Kenner der beiden Werke. (Hanser)
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