Renate Ulm (Hrsg.): "Gustav Mahlers Symphonien"

Entstehung Deutung Wirkung


Über Gustav Mahler, den großen Komponisten, Dirigenten und Wahrheitssucher an der Schnittstelle zwischen Klassik und Moderne wurden schon viele Bücher geschrieben. Das gegenständlich besprochene zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es bereits in seiner Form die bestmögliche Annäherung an den Gegenstand sucht. Zwar führt der Titel Mahlers Hauptwerk und -hinterlassenschaft, die Symfonien, an, zur Sprache kommt aber der ganze Künstler, in Werk, Biografie und Zeitgeschehen.

Das Buch ist in die jeweiligen Entstehungszeiten seiner Symfonien unterteilt und versammelt auf sehr intelligente Art zu jeder einzelnen dieser Fasen Essays zu Entstehung und Rezeption der Werke, inhaltliche Interpretationen und zahlreiche Zeitdokumente - ebenso interessant wie amüsant sind zum Beispiel manche Kritiken zu den Uraufführungen seiner Werke zu lesen; ist es auch weithin bekannt, dass Mahler zeitlebens als Dirigent deutlich mehr Achtung genoss denn als Komponist, so belegen die Dokumente, dass dies zum größeren Teil aus blankem Unverständnis gegenüber Mahlers neuen Tönen und Formen, und nur zum kleineren Teil aus Gehässigkeit der Person gegenüber der Fall war. Dazu gesellen sich Essays zu verschiedenen Aspekten seines künstlerischen Schaffens (auch diese möglichst in den Zeitabschnitt gestellt, da sie besonders wirksam waren), solche zu des Künstlers Lebenssituation in der jeweiligen Periode bzw. zur damaligen Zeit des fin de siècle an sich, als Wien die unbestrittene Hauptstadt der Musik, die Monarchie im Gehen und der Antisemitismus im Kommen war. A propos Zeit: als Beispiel für die verschiedensten Details, auf die das Buch ausführlich eingeht, sei die wirklich erstaunliche fysiognomische Veränderung des Komponisten erwähnt, in dessen Gesicht es - wie Schönberg als Erster feststellte - eine "Entwicklung von innen heraus gegeben hat, die alle Vorstadien, ich möchte sagen, verschluckt hat". Zahlreiche Fotografien belegen diese Behauptung, Karikaturen wiederum zeigen, wie ihn seine Zeitgenossen sahen, als asketisch, vergeistigt oder schrullig, in jedem Fall aber als seltsamen, außergewöhnlichen Charakter.

Weitere interessante Beiträge gelten den außermusikalischen Leidenschaften Mahlers, seiner Liebe zur Literatur etwa oder seiner sehr persönlichen Auffassung von Religion.
In erster Linie sind es aber Schriften zu seinen neuneinhalb Symfonien, die wohl musikwissenschaftlich, aber auf eine Art, mit der auch der Laie etwas anfangen kann, das gewaltige musikalische Werk mit seinen vielen Anspielungen, Untertönen und Stimmungen und in seiner gleichsam filosofisch-dialektischen Form beleuchten.

Heraus kommt bei der ganzen Lektüre jedenfalls ein facettenreiches Bild bzw. - wohl adäquater formuliert - ein polyfoner Klangkörper, in dem einander die Aussagen der mehr als zwanzig Essayisten meist zu einem größeren Ganzen, als es der einzelne Beitragschreiber vermocht hätte, ergänzen, manchmal auch widersprechen, gerade aber auch in den offenen Widersprüchen dem sich einer letztgültigen Deutung entziehenden Mysterium Mahler gerecht werden.

(fritz)


Renate Ulm (Hrsg.): "Gustav Mahlers Symphonien. Entstehung Deutung Wirkung"
Bärenreiter Verlag.
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