Juan Madrid: "Mein Amazonas. Eine phantastische Reise"


"Der Curupira lebt ganz tief im Regenwald und ist ein Junge, der die Füße verkehrt herum hat. Er hat einen haarigen Körper, und wenn du ihm begegnest und er dich ansieht, bist du wie gelähmt. Der Curupira ist den ganzen Tag im Wald und tritt ganz laut gegen die Bäume, damit alle wissen, dass er der Herr des Waldes ist. Er passt auf, dass niemand ein Tier tötet, ohne hungrig zu sein, und dass niemand grundlos einen Baum fällt. Wenn das passiert, wird der Curupira böse und hext dem Missetäter Krankheiten in den Körper, die nie heilen, und den Jäger straft er mit der Sünde der Völlerei. Wenn jemand einen Curupira tötet, sieht er anstelle des toten Curupiras den Menschen, den er am liebsten hat."

Diese und viele andere Geschichten erfährt der Leser auf dieser phantastischen Reise durch Amazonien, die auch einen Einblick in die politische Lage dieser Region sowie in deren Geschichte gibt.

Die Reise beginnt in Belém, wo wir erstmalig dem gewaltigen Amazonas begegnen, der für die Indios der König des Wassers ist. Durch das Amazonasbecken strömt mehr als ein Fünftel des gesamten Süßwassers der Erde. Er ist fast siebentausend Kilometer lang und erreicht eine maximale Tiefe von 250 Metern.

Vorerst sollte die Reise nach Manaus gehen, wo Juan Madrid sich mit seinem Jugendfreund Diodoro treffen wollte, um danach den Amazonas entlang bis ins Yanomani-Gebiet zu reisen. Die Motivation für die Reise ist einerseits, einen Roman über diese Region zu schreiben, und andererseits, die Amazonen zu suchen. Das ist ein sagenumwobener Indianerstamm, der in der Nähe der Yanomani lebt. Dieser Stamm besteht ausschließlich aus Frauen, Kriegerinnen, die nackt in den Kampf ziehen. Diese Frauen verlassen einmal im Jahr den Dschungel um Männer zu suchen und diese in ihre Dörfer mitzunehmen. Drei Monate leben die Männer dort wie Könige, wenn die Frauen dann schwanger sind, lässt man sie frei. Wenn Jungen geboren werden übergibt man sie den Missionaren, wenn es Mädchen sind, bleiben sie bei dem Stamm.

Der Roman beschreibt sehr gut den Aufstieg von Manaus durch das reiche Kautschukvorkommen zu einer mondänen Stadt mitten im Regenwald. Die Indios wurden damals schlimmer behandelt als Tiere, sie schufteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gegen eine Hungersmahlzeit. Sie wurden erschossen, gebrandmarkt, gefoltert, wenn sie nicht die erforderliche Ernte einbrachten. Durch Walt Haldenburg, einen US-amerikanischen Ingenieur wurde diese Handlungsweise publik. Doch an der Situation der Indios hat sich bis heute nicht viel verbessert. Genau wie die Konquistadoren stellten auch die Missionare am Amazonas die Versklavung und Ausbeutung der Indios nie in Frage, deren Kultur und Gebräuche wurden verachtet.

Das 19. Jahrhundert wird zum Jahrhundert der Unabhängigkeit Brasiliens, das nun nicht länger portugiesische Kolonie ist. Es ist auch das Jahrhundert des Kautschuks und des Untergangs der brasilianischen Monarchie und der Bereisung und Erforschung des Amazonasbeckens durch die Europäer.

Neben den geschichtlichen Ein- und Rückblicken, lernt der Leser aber vor allem die Bewohner im heutigen Amazonien kennen. So auch die Welt der Uferbewohner, in der es weder Straßen noch Wege gibt, da das Leben ausschließlich am Fluss stattfindet. Die Bewohner benutzen das Kanu, wenn sie zur Kirche, zum Markt oder zu einem Besuch wollen.

Es wird die Vielfalt der Vegetation des Regenwaldes beschrieben, die Art wie die Bäume zu genügend Nährstoffen kommen und die unglaubliche Anzahl von Tieren, die dort leben. Durch das Wechselspiel von Wasser und Land und die besonderen Temperatur- und Feuchtigkeitsverhältnisse ist der Regenwald ein Paradies für Amphibien, Fische und Insekten.

Die Probleme der Rodung des Regenwaldes werden dargestellt und deren mögliche bzw. bereits vorhandene Auswirkung auf die Menschen in dieser Region. Die großen Rinderfarmen zerstören mit staatlicher Unterstützung den Regenwald. Das Rind ist einer der schlimmsten Feinde für den Regenwald. Man schätzt, dass die Herstellung eines einzigen Hamburgers fünfundsiebzig Kilo pflanzliches Material zerstört. Wenn man bedenkt, dass es in Amazonien fünfundzwanzig Millionen Stück Vieh gibt, macht diese Aussage sehr betroffen.

Der Leser lernt auch Landarbeiter, Kautschukarbeiter, Goldgräber und Indianer sowie deren Lebensweise und Vorstellungen kennen. Der Roman konfrontiert mit der Kluft, die in Brasilien und noch mehr in Amazonien zwischen Arm und Reich und Armen und ganz Armen herrscht. Diese Kluft soll größer als der Abstand der Erde zum Mond sein.

Die Besetzung von Land oder leerstehenden Gebäuden in den Städten ist eine übliche Praxis. Viele Grundbesitzer hoffen förmlich auf eine Besetzung, nachdem sie das Land gerodet und ausgebeutet haben, um es zu überteuerten Preisen an den Staat zu verkaufen. Der Staat übereignet es dann den Besetzern sofern sie sich in Kooperativen organisieren. Juan Madrid lernt Menschen kennen, die für eine Agrarreform kämpfen, für eine Umverteilung des Landbesitzes und für eine Agrarpolitik, die die Produktion von Lebensmitteln fördert.

Voller Staunen erfährt der Leser, dass die Regierung Brasiliens achttausend Millionen Dollar für den Import von Lebensmitteln ausgibt und fünfhundert Million Dollar für die Agrarreform.

Die Reise Juan Madrids, die ihn auf der Suche nach seinem Jugendfreund durch ein riesiges Gebiet entlang des Amazonas führt, findet mittels Schiff, Bus, einem Taxi und auf Lastwägen statt. Obwohl er als Tourist reist, sucht und findet er immer Kontakt mit den Menschen in diesem faszinierenden Land.

Diese Lektüre lässt vor dem Auge des Lesers die Vielfalt und aufregende Schönheit Amazoniens aufleben, sodass man fast das Gefühl hat, die Gegend selbst bereist und Kontakte mit den Menschen geknüpft zu haben. Ob Juan Madrid seinen Freund Diodoro, der an jedem Ort, den er erreicht, schon weitergezogen ist, doch noch treffen wird und ob die gemeinsame Reise zu den Amazonen stattfindet, würde ich unbedingt empfehlen selbst nachzulesen.

Der Autor Juan Madrid wurde 1947 in Malaga geboren und studierte Geschichte. Seit 1974 arbeitet er als Redakteur der Zeitschrift "Cambio 16" und als Filmemacher. Er ist einer der bekanntesten spanischen Kriminalschriftsteller.

Mit diesem Roman ist ihm jedenfalls der Beweis gelungen, dass Geschichte unglaublich faszinierend sein kann und ein Reisebericht krimiähnliche Spannung hervorrufen kann. Diese phantastische Reise macht Lust auf Brasilien, Lust auf den aufregend schönen Regenwald und seine Bewohner, erzeugt aber auch Betroffenheit über die fortschreitende Zerstörung dieses Paradieses und den Umgang mit den dort ansässigen Menschen, deren Lebensgrundlage sukzessiv der Ausbeutung zum Opfer fällt.

(margarete, mai 2002)


 

Juan Madrid: "Mein Amazonas. Eine phantastische Reise"
Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen.
Europa Verlag, 2002. 340 Seiten.
ISBN 3-203-80040-3.
ca. EUR 22,90.
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