Lu Wenfu: "Der Gourmet"

Leben und Leidenschaft eines chinesischen Feinschmeckers


Esskultur statt Kulturrevolution!

Der alte Gao Xiaoting erzählt von seinem langen und bewegten Leben im südchinesischen Suzhou. Kulinarische Genüsse, die ihm lange fremd bleiben, und politische Entwicklungen verbinden ihn über Jahrzehnte mit dem Gourmet Zhu Ziye, seinem liebsten Hassobjekt und Widersacher.

Als Schüler darf der in ärmlichen Verhältnissen geborene Gao gegen kleinere Dienstleistungen im Pförtnerhaus des vermögenden Immobilienbesitzers Zhu wohnen. Die Abhängigkeit vom "Kapitalisten", in dessen Lebensmittelpunkt gutes Essen steht, und der Widerstand gegen die Ausbeutung treiben den jugendlichen Gao in die kommunistische Revolutionsarmee.

Nach dem Umsturz von 1949 soll er einen Kaderposten in seiner Heimatstadt Souzhou einnehmen. Da er sich bislang vor allem mit der Schlemmerei Zhus beschäftigte, wird er - nicht wirklich gegen seinen Willen - Leiter eines berühmten Restaurants. Seine Idee, daraus eine Volksgaststätte für billige und einfache Kost zu machen, die Hungersnöte der 50er-Jahre und schließlich die Wirren der Kulturrevolution lassen die gastronomische Tradition der berühmten Küche von Souzhou abreißen. Häufig hat man den Eindruck, Gao sei weniger überzeugter Kommunist, sondern wolle hauptsächlich Zhu demütigen und sich für die schmachvolle Behandlung in seiner Jugend rächen.

Schließlich erkennt Gao im Einklang mit der herrschenden Politik nach der Kulturrevolution, dass gute Küche wichtig und ideologisch nicht verwerflich ist. Aber er muss auch feststellen, dass es niemanden mehr gibt, der an die gastronomische Tradition der Zeit vor 1949 anknüpfen kann, fast niemanden - nur Zhu konnte sein Wissen über die Jahrzehnte bewahren ...

Lu Wenfu, der Autor, versteht es, das Auf und Ab der chinesischen Politik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer Geschichte über das Essen widerspiegeln zu lassen. Über alle ideologischen Irrwege und ihre oft harten sozialen Folgen für die Bevölkerung triumphiert die traditionsreiche Esskultur, der sich, wie das Nachwort des Übersetzers andeutet, Lu Wenfu sehr verbunden fühlt. Dabei zeigt er auch die Reichhaltigkeit der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung von Essen als Befriedigung eines Grundbedürfnisses sowie auch als Ausdruck des sozialen Status und der kulturellen Identifikation. Gao, der Icherzähler dieses Entwicklungsromans, braucht nahezu ein Berufsleben lang, um alle diese Aspekte dieser nur scheinbar so alltäglichen Handlung zu erkennen.

Auch wer sich für die politische Perspektive des Romans weniger interessiert, von der Barbarei vielleicht sogar abgeschreckt wird, hat noch keinen Grund, das Buch enttäuscht aus der Hand zu legen: in einer amüsanten und liebenswerten Erzählweise eröffnet es appetitanregende Einblicke in die faszinierende Tradition südchinesischer Küche.

(Wolfgang Moser; 08/2005)


Lu Wenfu: "Der Gourmet"
(Originaltitel "Meishijia")
Aus dem Chinesischen und mit einem Nachwort von Ulrich Kautz.
Diogenes, 2005. 192 Seiten.
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Lu Wenfu wurde 1928 in China, im Kreis Taixing (Provinz Jiangsu), geboren. Er begann als Reporter bei einer Lokalzeitung Erzählungen zu schreiben, die hoch gelobt wurden, und gründete 1957 mit Freunden eine Zeitschrift, die nach einem halben Jahr verboten wurde. Man steckte Lu Wenfu als "parteifeindliches rechtes Element" zur Umerziehung in eine Maschinenfabrik. Als er ab 1960 wieder schreiben durfte, waren immer noch "überlebensgroße sozialistische Helden" gefragt, für Lu Wenfu einfach zu große. Das kostete ihn während der Kulturrevolution fast den Kragen: Er wurde mit seiner Familie in ein entlegenes Dorf verbannt, wo ans Schreiben gar nicht zu denken war; es galt, nicht zu erfrieren oder zu verhungern. Nach der Zerschlagung der Viererbande fing er mit 50 noch einmal von vorne an: Sein dritter Versuch als Schriftsteller fand mit Preisen und Verfilmungen den verdienten Erfolg.