Clara Sánchez: "Letzte Notizen aus dem Paradies"
Roman

Ei, schummert die Leinwand des Lebens mir grau
das Schicksal mit Wehmutsgerinnsel,
dann tauch ich getrost in der Hoffnung Blau
hinein meinen durstigen Pinsel.
(aus: "Zukunft" von Rainer Maria Rilke)


   Ebenso leuchtgrün wie der Hintergrund für diese Zeilen sind die Buchdeckel des hier besprochenen Romans; samtweich-tiefblau ist das darin festgeklebte Lesezeichen. Nicht zu vergessen die bedruckten Seiten, derentwegen man ein Buch gemeinhin erwirbt:

   Clara Sánchez erzählt aus der Perspektive des zwanzigjährigen Fran, der im ersten Teil des Romans auf seine Kindheit und Jugend in einer tristen fünfzehntausend-Seelen-Vorstadt Madrids, seine Probleme, seine Schwärmerei für die Schwester seines besten Freundes, seine zerrütteten Familienverhältnisse (und so weiter und so fort), zurückblickt. Im zweiten Teil sehen wir eine Profezeiung wahr werden.
Warum dies? Dafür findet sich in den "Letzten Notizen aus dem Paradies" keine Begründung. Es wird einfach mehr oder minder fröhlich drauflos erzählt, und zwar durchschnittlich bis mittelmäßig interessant. Weder die Art und Weise wie, noch was da erzählt wird, ist formal oder inhaltlich außergewöhnlich beziehungsweise über die Maßen bemerkenswert. Nach der Lektüre von etwa 80 Seiten hat man sich entweder mit der Sprache und dem seifenopernartigen Inhalt angefreundet /abgefunden, oder den Roman bereits beiseite gelegt.

   Was erzählt dieser Fran also? Im ersten Teil, dem Rückblick, verwendet er die Mitvergangenheit und berichtet, dass sein Vater zumeist beruflich unterwegs, er in Tania, die Schwester seines hochbegabten besten Freundes Edu, verliebt war, dass seine Mutter eine außereheliche Affäre mit dem provinziellen Fitness-Trainer (spitznamens "Mister Legs") hatte, dass er sich mit diesem anfreundete und joggte. Dass er immer schon Hunde liebte und der Inhaber der Putzerei "Minerva" erschossen wurde, dass regelmäßig ein und dieselbe Frauenleiche in einem nahegelegenen Teich auftauchte. Dass Tania einen wesentlich älteren Mann, angeblich Gangster von Beruf, ehelichte und mit ihm nach Mexiko zog, und dass sein Freund Edu von diesem Schwager in zwielichtige Geschäfte verwickelt wurde. In dieser Tonart erfährt man auch von einem Provinz-Guru, genannt "Alien", der Weisheiten für jede erdenkliche Lebenslage auf Lager hatte sowie im örtlichen Kulturzentrum Vorträge hielt, und bekommt ein Bild von der trübsinnigen Vorstadt-Atmosfäre, deren architektonische Merkmale Tankstellen, geschwürartig wuchernde Einkaufszentren und uniforme Reihenhäuser waren (und sind), geliefert. Frans Eltern ließen sich scheiden, seine Mutter arbeitete wieder in der zahnärztlichen Praxis des Dr. Ibarra, und er schaffte die Aufnahmeprüfung für die Universität nicht. Fran fasste den Vorsatz, nach China zu reisen, verfügte jedoch nicht über das dafür nötige Geld und sein Vater hatte eine junge Geliebte. Ach ja - (ganz wichtig!) -: Die Großmutter einer chinesisch-stämmigen Freundin äußerte, als er elf Jahre alt war, die verheißungsvolle Profezeiung, dass er vom Glück gesegnet sei und ihn das Schicksal mit Gold überhäufen werde.

   Im zweiten Teil ist die Gegenwart Erzählzeit: Fran arbeitet in einer unrentablen Videothek, träumt davon, selbst Filme zu drehen, hat ein rein sexuelles Verhältnis mit der Freundin seines Chefs, seine Mutter eröffnet ihm, sie werde Dr. Ibarra heiraten und schnupft fröhlich gemeinsam mit der Putzfrau Kokain. Edu, inzwischen zu Geld gekommen, vertraut ihm eines Tages einen Schlüssel zu einem Apartment in der Stadt zur Aufbewahrung an, wofür er ihm fünfhunderttausend Pesetas als Gegenleistung in Aussicht stellt. Diesen Geldbetrag sieht Fran nie, denn Edu verschwindet kurz darauf für immer. In dem bewussten Apartment trifft Fran auf Yu, Edus mit einem wohlhabenden Taiwanesen verheiratete Exfreundin. Die Wohnung des abwesenden Freundes wird zum Liebesnest, bis Yu zu ihrem Ehemann zurückkehren muss. Die Videothek wird geschlossen, Fran von deren Besitzer verprügelt.

   Zuguterletzt erhält er von einem geheimnisvollen Nachbarn, dem er behilflich ist, einen Code für ein Bankschließfach in Genf. Der Nachbar verschwindet ebenfalls spurlos, Fran reist in die Schweiz und kommt als reicher Mann zurück, woraufhin er die ungeliebte Gegend verlässt und mit seiner Mutter in eine Stadtwohnung übersiedelt. Die Hochzeit mit dem Zahnarzt findet nicht statt, sein Vater verheiratet sich jedoch abermals, und Fran kann nun endlich nach China aufbrechen, die geliebte Yu zu suchen ...

   Im Verlauf des Romans wird Fran viermal mit der Feststellung konfrontiert: "Du bist ein Romantiker, wusstest du das?" Der Leser weiß die (eher verneinende) Antwort schon nach dem ersten Mal. Insgesamt kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Clara Sánchez habe ihren höchstpersönlichen Versuch des Entwurfs eines Traummanns zu Papier bringen wollen, oder doch zumindest eine Anleitung für ihre potentiellen zukünftigen Liebhaber. Zu viele Aussagen Frans wirken aufgesetzt bis unglaubwürdig für einen jungen Mann und scheinen ausschließlich dem Wunschdenken seiner Schöpferin entsprungen.

   Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb: "Clara Sachez, eine spanische Entdeckung. ...ihre (C.S.´) Leistung ist, uns das Fühlen eines Neunzehn- und Zwanzigjährigen als lautloses Seelentheater vor Augen zu stellen, teilnahmsvoll, aber auch durch einen hauchdünnen Schleier der Ironie. ... Ihr Buch erzielt den Zaubereffekt jener seltenen, dem Leser ans Herz wachsenden Literatur: das Gewöhnliche mit poetischem Glanz zu versehen und es in unsere Erinnerung zu senken wie eine persönliche Begegnung."

   Clara Sánchez wurde 1955 in Guadalajara geboren. Sie studierte spanische Filologie in Madrid, wo sie auch lebt. Insgesamt hat sie bislang fünf Romane veröffentlicht. In deutscher Übersetzung liegt auch "Der Sommer mit Elena" vor.

   "Letzte Notizen aus dem Paradies" wurde in der spanischsprachigen Welt mit großer Begeisterung aufgenommen und brachte der Autorin den mit 25 Millionen Pesetas dotierten Premio Internacional Alfaguara 2000 ein.

(K. Eckberg; 11/2001)


Clara Sánchez: "Letzte Notizen aus dem Paradies"
(Originaltitel: "Últimas noticias del paraíso")
Übersetzt von Lisa Grüneisen.
Roman. Scherz Verlag, 2001. 253 Seiten. ISBN 3-502-10641-X.
ca. EUR 20,5.
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