Es fiel Regen in jener
Nacht, ein feiner, wispernder Regen. Noch viele Jahre später musste Meggie bloß
die Augen schließen und schon hörte sie ihn, wie winzige Finger, die gegen die
Scheibe klopften. Irgendwo in der Dunkelheit bellte ein Hund, und Meggie konnte
nicht schlafen, so oft sie sich auch von einer Seite auf die andere
drehte.
Unter ihrem Kissen lag das Buch, in dem sie gelesen hatte. Es drückte
den Einband gegen ihr Ohr, als wollte es sie wieder zwischen seine bedruckten
Seiten locken. "Oh, das ist bestimmt sehr bequem, so ein eckiges, hartes Ding
unterm Kopf", hatte ihr Vater gesagt, als er zum ersten Mal ein Buch unter ihrem
Kissen entdeckte. "Gib zu, es flüstert dir nachts seine Geschichte ins Ohr." -
"Manchmal!", hatte Meggie geantwortet. "Aber es funktioniert nur bei Kindern."
Dafür hatte Mo sie in die Nase gezwickt. Mo. Meggie hatte ihren Vater noch nie
anders genannt.
In jener Nacht - mit der so vieles begann und so vieles sich
für alle Zeit änderte - lag eins von Meggies Lieblingsbüchern unter ihrem
Kissen, und als der Regen sie nicht schlafen ließ, setzte sie sich auf, rieb
sich die Müdigkeit aus den Augen und zog das Buch unter dem Kissen hervor. Die
Seiten raschelten verheißungsvoll, als sie es aufschlug. Meggie fand, dass
dieses erste Flüstern bei jedem Buch etwas anders klang, je nachdem, ob sie
schon wusste, was es ihr erzählen würde, oder nicht. Aber jetzt musste erst
einmal Licht her. In der Schublade ihres Nachttisches hatte sie eine Schachtel
Streichhölzer
versteckt. Mo hatte ihr verboten, nachts Kerzen anzuzünden. Er mochte kein
Feuer. "Feuer frisst Bücher", sagte er immer, aber schließlich war sie zwölf
Jahre alt und konnte auf ein paar Kerzenflammen aufpassen. Meggie liebte es, bei
Kerzenlicht zu lesen. Drei Windlichter und drei Leuchter hatte sie auf dem
Fensterbrett stehen. Sie hielt das brennende Streichholz gerade an einen der
schwarzen Dochte, als sie draußen die Schritte hörte. Erschrocken pustete sie
das Streichholz aus - wie genau sie sich viele Jahre später noch daran
erinnerte! -, kniete sich vor das regennasse Fenster und blickte hinaus. Und da
sah sie ihn.
Die Dunkelheit war blass vom Regen und der Fremde war kaum mehr
als ein Schatten. Nur sein Gesicht leuchtete zu Meggie herüber. Das Haar klebte
ihm auf der nassen Stirn. Der Regen triefte auf ihn herab, aber er beachtete ihn
nicht. Reglos stand er da, die Arme um die Brust geschlungen, als wollte er sich
wenigstens auf diese Weise etwas wärmen. So starrte er zu ihrem Haus
herüber.
Ich muss Mo wecken!, dachte Meggie. Aber sie blieb sitzen, mit
klopfendem Herzen, und starrte weiter hinaus in die Nacht, als hätte der Fremde
sie angesteckt mit seiner Reglosigkeit. Plötzlich drehte er den Kopf und Meggie
schien es, als blickte er ihr direkt in die Augen. Sie rutschte so hastig aus
dem Bett, dass das aufgeschlagene Buch zu Boden fiel. Barfuß lief sie los,
hinaus auf den dunklen Flur. In dem alten Haus war es kühl, obwohl es schon Ende
Mai war.
In Mos Zimmer brannte noch Licht. Er war oft bis tief in die Nacht
wach und las. Die Bücherleidenschaft hatte Meggie von ihm geerbt. Wenn sie sich
nach einem schlimmen Traum zu ihm flüchtete, ließ sie nichts besser einschlafen
als Mos ruhiger Atem neben sich und das Umblättern der Seiten. Nichts
verscheuchte böse Träume schneller als das Rascheln von bedrucktem
Papier.
Aber die Gestalt vor dem Haus war kein Traum.
Das Buch, in dem Mo
in dieser Nacht las, hatte einen Einband aus blassblauem Leinen. Auch daran
erinnerte Meggie sich später. Was für unwichtige Dinge im Gedächtnis kleben
bleiben!
"Mo, auf dem Hof steht jemand!"
Ihr Vater hob den Kopf und
blickte sie abwesend an, wie immer, wenn sie ihn beim
Lesen unterbrach. Es
dauerte jedes Mal ein paar Augenblicke, bis er zurückfand aus der anderen Welt,
aus dem Labyrinth der Buchstaben.
"Da steht einer? Bist du sicher?"
"Ja.
Er starrt unser Haus an."
Mo legte das Buch weg. "Was hast du vorm Schlafen
gelesen? Dr. Jekyll und Mr Hyde?"
Meggie runzelte die Stirn. "Bitte, Mo! Komm
mit."
Er glaubte ihr nicht, aber er folgte ihr. Meggie zerrte ihn so
ungeduldig hinter sich her, dass er sich auf dem Flur die Zehen an einem Stapel
Bücher stieß. Woran auch sonst? Überall in ihrem Haus stapelten sich Bücher. Sie
standen nicht nur in Regalen wie bei anderen Leuten, nein, bei ihnen stapelten
sie sich unter den Tischen, auf Stühlen, in den Zimmerecken. Es gab sie in der
Küche und auf dem Klo, auf dem Fernseher und im Kleiderschrank, kleine Stapel,
hohe Stapel, dicke, dünne, alte, neue ... Bücher. Sie empfingen Meggie mit
einladend aufgeschlagenen Seiten auf dem Frühstückstisch, trieben grauen Tagen
die Langeweile aus - und manchmal stolperte man über sie.
"Er steht einfach
nur da!", flüsterte Meggie, während sie Mo in ihr Zimmer zog.
"Hat er ein
Pelzgesicht? Dann könnte es ein
Werwolf sein."
"Hör
auf!" Meggie sah ihn streng an, obwohl seine Scherze ihre Angst vertrieben. Fast
glaubte sie schon selbst nicht mehr an die Gestalt im Regen ... bis sie wieder
vor ihrem Fenster kniete. "Da! Siehst du ihn?", flüsterte sie.
Mo blickte
hinaus, durch die immer noch rinnenden Regentropfen, und sagte nichts.
"Hast
du nicht geschworen, zu uns kommt nie ein Einbrecher, weil es nichts zu stehlen
gibt?", flüsterte Meggie.
"Das ist kein Einbrecher", antwortete Mo, aber sein
Gesicht war so ernst, als er vom Fenster zurücktrat, dass Meggies Herz nur noch
schneller klopfte. "Geh ins Bett, Meggie", sagte er. "Der Besuch ist für
mich."
(Aus "Tintenherz" von Cornelia Funke.)
In einer stürmischen Nacht taucht ein
unheimlicher Gast bei Meggie und ihrem Vater Mo auf. Er warnt Mo vor einem Mann
namens Capricorn. Am nächsten Morgen reist Mo überstürzt mit Meggie zu ihrer
Tante Elinor. Elinor verfügt über die kostbarste Bibliothek,
die Meggie je gesehen hat. Hier versteckt Mo das Buch, um das sich alles dreht.
Ein Buch, das Mo vor vielen Jahren zum letzten Mal gelesen hat und das jetzt in
den Mittelpunkt eines unglaublichen, magischen und atemberaubenden Abenteuers
rückt, eines Abenteuers, in dessen Verlauf Meggie nicht nur das Geheimnis um
Zauberzunge und Capricorn löst, sondern auch selbst in große Gefahr
gerät.
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